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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Geplauder so viel, daß für die Praxis nichts übrig bleibt. Zum Glück hilft die gute Manier aus, und man thut aus Schicklichkeit ungefähr dasselbe, was man aus Gefühl thun würde, wenigstens so viel, daß es nur Phrasen und etwas vorübergehenden Zwang, den man sich auflegt,kostet, um sich einen guten Leumund zu machen; denn wenn die Opfer so weit gehen sollten, sich zu viel Zwang anzuthun oder zu theuer zu kommen, dann gute Nacht Sentiment; so viel muthet Einem die Schicklichkeit nicht zu. Dies abgerechnet ist es gar nicht zu glauben, wie Alles abgemessen und bestimmt ist in dem, was sie
procédés
[„Die Art, wie man sich zu benehmen hat," — Die Ausdrücke Sentiment, procédés mußten als technische in der Uebersetzung beibehalten werden. D. Ueb.]
nennen; sie haben Alles, weil es nicht mehr im Gefühle liegt, in Regeln gebracht und es ist eben Alles Regel bei ihnen. Steckte dies Volk von Nachbetern ganz voll von Originalen, man würde nichts davon merken; denn Niemand getraut sich er selbst zu sein. „Man muß es wie die Andern machen" ist die erste Lebensregel hier zu Lande; „das thut man, das thut man nicht" die letzte Entscheidung.
    Dieser Schein von geregeltem Wesen giebt dem gemeinen Brauche den komischsten Anstrich von der Welt, selbst in den ernsthaftesten Dingen, Man weiß auf's Haar, wann man sich muß nach dem Befinden erkundigen, wann sich aufschreiben lassen, d. h. eine Visite machen, die man nicht macht, wann eine wirklich machen, wann zu Hause sein, wann nicht, wiewohl man es ist, was anbieten, welche Anerbietungen ablehnen, wie betrübt bei so und so einem Todesfalle sein
[Sich über den Tod eines Menschen betrüben ist eine menschliche Empfindung und das Zeichen eines guten Herzens, aber keine Tugendpflicht, wäre der Verstorbene auch unser Vater. Wer in solchem Falle keine Traurigkeit im Herzen hat, soll auch keine äußerlich zur Schau tragen; denn es ist weit wesentlicher, alle Falschheit zu meiden, als sich der Schicklichkeit zu unterwerfen.]
, wie lange auf dem Lande weinen, an welchem Tage sich trösten und in die Stadt zurückkehren, wann, auf Stunde und Minute, wieder einen Ball geben und in's Schauspiel gehen. Alle Welt thut in gleichem Falle genau dasselbe, Alles geht im Takte, wie die Bewegungen eines Regiments in Schlachtordnung, es ist, als ob man lauter Marionetten sähe, die von demselben Draht regiert werden.
    Da es nun unmöglich ist, daß alle diese Leute, die genau das Nämliche thun, auch genau die nämliche Empfindung haben, so ist klar, daß es anderer Mittel, sie zu durchschauen, bedarf, wenn man sie kennen lernen will; klar, daß all ihr Geschwätz nur eingelernte Formel ist und nicht sowohl die Gesittung anzeigt, als vielmehr, was in Paris zum guten Tone gehört. Man erfährt, was da geredet wird, aber niemals, was davon zu halten ist. Dasselbe muß ich von den meisten neuen Schriften sagen; dasselbe auch vom Theater, welches seit Molière weit mehr ein Ort ist, wo artige Conversationen zum Besten gegeben werden, als eine Darstellung des bürgerlichen Lebens. Es giebt hier drei Theater, auf deren zweien phantastische Wesen vorgeführt werden, nämlich auf dem einen Harlekins, Pantalons, Skaramuze; auf dem andern Götter, Teufel, Zauberer. Auf dem dritten werden jene unsterblichen Stücke gegeben, die wir mit so großem Vergnügen lasen und andere neuere, die von Zeit zu Zeit auf die Bühne kommen. Manche von diesen letzteren sind Tragödien, aber nichts recht Ergreifendes; und wenn auch hin und wieder ein natürliches Gefühl oder eine wahre Beziehung zum menschlichen Herzen darin zu finden ist, gewähren sie doch keine Art Belehrung über die eigenthümliche Gesittung des Volkes, dem sie zur Belustigung dienen.
    Die Tragödie hatte zur Zeit ihrer Erfindung eine religiöse Grundlage, wodurch ihre Einführung hinreichend gerechtfertigt war. Außerdem bot sie den Griechen in den Niederlagen der Perser, ihrer Feinde, in den Verbrechen und Thorheiten der Könige, von denen sich das Volk frei gemacht hatte, ein lehrreich unterhaltendes Schauspiel dar. Wollte man in Bern, in Zürich, im Haag die alte Tyrannei des Hauses Oesterreich darstellen, so würde die Liebe zum Vaterlande und zur Freiheit diesen Stücken unsere Theilnahme zuwenden; man sage mir aber, was sich hier mit den Trauerspielen Corneille's anfangen lasse und was das Volk von Paris Pompejus oder Sertorius angeht. Die griechischen Tragödien hatten wirkliche Begebenheiten zum Gegenstande oder doch solche,

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