Julie oder Die neue Heloise
die der Zuschauer dafür nahm und die sich auf geschichtliche Ueberlieferungen gründeten. Aber was will eine heldenmütige, reine Liebe in der Seele der Großen? Sollte man nicht denken, die inneren Kämpfe der Liebe und der Tugend machen ihnen oft schlaflose Nächte, und das Herz spiele eine große Rolle bei den fürstlichen Heiraten? Sage dir nun, wie viel Wahrscheinlichkeit und welchen Nutzen alle diese Stücke haben, die sich lediglich um einen so phantastischen Gegenstand drehen!
Was das Lustspiel anlangt, so ist gewiß, daß es die Sitten des Volkes, für welches es geschrieben ist, nach der Natur darstellen soll, damit letzteres sich von seinen Lastern und Fehlern bessere, wie man vor einem Spiegel die Flecken aus seinem Gesichte wegschafft, Terenz und Plautus vergriffen sich schon in ihrem Gegenstande, aber vor ihnen Aristophanes und Menander hatten den Athenern athenische Sitten vorgeführt, und in neuerer Zeit hat Molière allein, noch naiver als jene, den Franzosen des vorigen Jahrhunderts ihre eigenen Sitten vor Augen gehalten. Das Gemälde ist jetzt ein anderes, aber es hat sich kein Maler wieder gefunden. Jetzt copirt man auf dem Theater die Conversationen, wie sie in etwa hundert Häusern von Paris bräuchlich sind; weiter erfährt man da nichts von den französischen Sitten. Es giebt in dieser großen Stadt fünf- bis sechsmal hunderttausend Seelen, von denen auf der Bühne nie die Rede ist. Molière wagte es, Bürger und Handwerker so gut wie Marquis zu schildern; Sokrates ließ Fuhrleute, Schreiner, Schuster, Maurer
[Nach einer Stele bei Montaigne, s. Liv. III chap. 12. „Er führt immer nur Fuhrleute, Tischler, Maurer im Munde u.s.w.“ Vergl. Xenophon's Erinnerungen an Sokr. B. III. C. 10. D. Ueb.]
sprechen. Aber die heutigen Schriftsteller, Leute von ganz anderem Ansehen, würden sich für entehrt halten, wenn sie wüßten, was im Comptoir eines Kaufmanns oder in der Bude eines Handwerkers vorgeht; sie müssen immer erlauchte Herren zu handelnden Personen haben und legen in den Rang derselben die Hoheit, die sie ihnen nicht in den Sinn zu legen wissen. Die Zuschauer selbst sind so ekel geworden, daß sie besorgt sind, sich vor den Brettern wie bei der Visite zu compromittiren und sich nicht herablassen mögen, im Stücke Leute geringeren Standes als sie sind, vor sich zu sehen. Sie achten sich für die einzigen Erdenbürger, alle Uebrigen sind in ihren Augen Nichts. Wer eine Kutsche, einen Schweizer, einen Hausmeister hat, der ist
comme tout le monde
. Um „wie alle Welt" zu sein, muß man wie sehr wenige Menschen sein. Die, welche zu Fuße gehen, gehören nicht zur Welt; das ist Bürgerpack
[Wieder das bourgois. Vgl. oben die Anmerk. D. Ueb.]
Pöbel, Volk aus einer andern Welt: man möchte sagen, daß eine Kutsche nicht sowohl zum Fahren als zur Existenz unenthehrlich sei. Es giebt somit eine Hand voll anmaßender Gesellen, die nur sich in der Welt zählen und die in der That nicht zählenswerth sind, außer des Bösen wegen, das sie thun. Für sie einzig und allein werden die Theaterstücke gemacht. Sie erscheinen da zugleich vorgestellt, in der Mitte des Theaters, und vorstellend, zu beiden Seiten; sie sind Personen auf der Bühne und Schauspieler auf den Bänken. So verschränken sich die Sphären der Welt und der Dichtung und das moderne Schauspiel weicht keinen
Schritt breit von seiner langweiligen Grandezza. Man kann da den Menschen nicht mehr anders vorführen als im bordirten Kleide. Man sollte meinen, Frankreich sei mit nichts als Comtes und Chevaliers bevölkert und je bettelhafter und elendiglicher das Volk ist, desto pomphafter und prächtiger ist das Conterfei des Volkes auf den Brettern. Daher geschieht es, daß durch die Schilderung von Lächerlichkeiten derjenigen Stände, die den andern zum Muster dienen, diese Lächerlichkeiten mehr ausgebreitet als vertilgt werden, und daß das Volk. das stets der Affe der Reichen ist, weniger in's Theater geht, um ihre Narrheiten zu belachen, als um sie zu studiren und noch närrischer zu werden als seine Vorbilder, Das ist ein Fehler, dessen sich auch Molière selbst schuldig gemacht hat; er besserte den Hof und steckte die Stadt an, und seine lächerlichen Marquis waren die ersten Muster der bürgerlichen Stutzer, die sich nach ihnen bildeten.
Im Allgemeinen ist viel Gerede und wenig Handlung auf der französischen Bühne; vielleicht liegt es daran, daß in der Wirklichkeit der Franzose mehr spricht als er handelt, oder wenigstens,
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