Julie oder Die neue Heloise
vorenthält! Aber dennoch fühlst du nicht eine Art Trost in unseren Leiden? fühlst du nicht, daß das Uebermaß unseres Elends nicht mehr ganz ohne Vergütung ist, und daß, wenn sie Freuden haben, deren wir beraubt sind, wir dafür solche haben, die sie nicht kennen? Ja, süße Freundin, trotz der Abwesenheit, der Entbehrungen, der Unruhe, trotz der Verzweigung selbst, liegt in dem gewaltigen Fluge zweier Herzen zu einander hin eine geheime Wollust, von der ruhige Seelen keine Ahnung haben. Es ist eines von den Wundern der Liebe, daß sie es uns zu einer Lust macht zu leiden; ja, für das größte Unglück, das uns treffen könnte, würden wir einen Zustand von Unempfindlichkeit und Vergessenheit halten. welcher uns jedes Gefühl unserer Schmerzen rauben wollte. Beklagen wir denn unser Loos, Julie, aber beneiden wir Niemanden! Es giebt vielleicht, Alles genommen, kein Dasein, das dem unseren vorzuziehen wäre, und wie die Gottheit all ihre Seligkeit aus sich selber nimmt, so finden die Herzen, welche ein himmlisches Feuer erwärmt, in ihren eigenen Gefühlen einen reinen köstlichen Genuß, der unabhängig von dem Schicksale und von der ganzen Welt ist.
Siebzehnter Brief.
An Julie.
Da wäre ich denn nun ganz in dem Strome! Als meine Sammlung fertig war. fing ich an das Theater zu besuchen und Soupers in derStadt mitzumachen. Ich bringe meinen ganzen Tag in der Welt hin, ich leihe Allem, was sich mir darbietet, Aug' und Ohr, und, da ich nichts finde, was dir gleicht, so sammle ich mich mitten in dem Lärm und plaudere im Stillen mit dir. Nicht, als hätte nicht dieses geräuschvolle und bewegte Leben auch seinen Reiz, und der wunderbare Wechsel der Gegenstände eine gewisse Annehmlichkeit für den Neuling; aber um ein Gefühl dafür zu haben, muß das Herz leer und der Sinn leichtfertig sein; es ist, als ob sich Liebe und Vernunft verbänden, mir das ganze Treiben zum Ekel zu machen. Da Alles nur eitler Schein ist, und jeder Augenblick Neues bringt, so läßt mir Nichts Zeit, mich von ihm bewegen zu lassen. Nichts Zeit, es nur recht zu Prüfen.
So fange ich denn nun an zu sehen, wie schwer es ist, die Welt zu studiren, und ich weiß nicht einmal, welche Stellung man einnehmen müßte, um sie ordentlich kennen zu lernen. Der Philosoph steht ihr zu fern, der Weltmann zu nah. Jener sieht zu viel, um zum Nachdenken zu kommen, dieser zu wenig, um das Ganze beurtheilen zu können. Der Philosoph betrachtet jeden Gegenstand, der ihm in's Auge fällt, einzeln, und, außer Stande, dessen Zusammenhänge und Beziehungen zu andern Gegenständen, die zufällig nicht in seinem Bereiche liegen, zu erkennen, sieht er denselben nie an seiner Stelle und begreift weder die Ursache noch die wahren Wirkungen. Der Weltmann sieht Alles, aber hat nicht Zeit, an etwas zu denken; der schnelle Wechsel der Gegenstände erlaubt ihm nur, sie zu bemerken, nicht sie zu beobachten; die Eindrücke verwischen in Eile einer den andern, und nichts bleibt ihm davon zurück, als ein verworrenes Bild, das einem Chaos gleicht.
Man kann auch nicht abwechselnd dann beobachten, dann nachdenken, weil das Schauspiel eine unausgesetzte Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, die das Denken unterbrechen würde. Ein Mensch, der seine Zeit zwischen Welt und Einsamkeit theilen wollte, würde, in seiner Znrückgezogenheit ewig voll Unruhe und in der Welt ewig fremd, auf keiner Seite recht sein. Es möchte kein anderes Mittel geben, als sein ganzes Leben in zwei große Hälften zu theilen, die eine, um zu sehen, die andere, um zu überdenken; aber auch das ist beinahe unmöglich, denn die Denkkraft ist kein Geräth, das man nach Belieben bei Seite legt und wieder hervorholt, und wer zehn Jahre hat leben können, ohne zu denken, der wird in seinem ganzen Leben nicht denken.
Ich finde auch, daß es eine Thorheit ist, die Welt als bloßer Zuschauer studiren zu wollen. Wer nichts weiter will, als Beobachtungen machen, macht keine, weil er, als ein bei Geschäften unnützer und bei Vergnügungen lästiger Gesell, nirgend zugelassen wird. Man sieht die Anderen nur thätig, so weit man selbst mit thätig ist; in der Schule der Welt, wie in der Schule der Liebe muß man von Anfang an ausübend lernen.
Welche Rolle soll ich also spielen, als Fremder, der keinerlei Geschäft im Lande hat, und schon durch die Religionsverschiedenheit allein verhindert ist, nach irgend einer Stellung zu streben? Ich bin gezwungen, mich wegzuwerfen, um mich zu unterrichten, und da ich mich auf
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