Julie oder Die neue Heloise
meisten in Erstaunen setzt, ist, daß sechs Personen, die ausdrücklich zusammengekommen sind, um sich angenehm zu unterhalten und die meistens auch noch in geheimen Liaisons mit einander stehen, keine Stunde unter sich sein können, ohne halb Paris in ihren Kreis zu ziehen, als ob sich ihre Herzen nichts zu sagen hätten und Niemand zugegen wäre, der ihre Theilnahme verdiente. Erinnerst du dich, meine Julie, wie wir, wenn wir bei deiner Cousine oder bei dir zu Abend aßen, trotz Zwang und Heimlichkeit, die Unterhaltung auf Gegenstände lenkten, welche auf uns Bezug hatten, und wie bei jeder rührenden Bemerkung, bei jeder feinen Anspielung ein Blick rascher als der Blitz, ein Seufzer mehr geahnt als vernommen die süße Empfindung von dem einen Herzen zu dem andern trug?
Lenkt sich die Unterhaltung zufällig auf die Tischgenossen, so tritt gemeinlich ein gewisser Gesellschafts-Jargon ein, dessen Schlüssel man besitzen muß, um ihn zu verstehen. Mittelst dieser Chiffre machen sie auf einander je nach der Mode tausend Sticheleien, in denen wer am wenigsten glänzt, nicht gerade der dümmste zu sein braucht, während jeder Dritte, der nicht eingeweiht ist, schweigen und sich langweilen oder Dinge belachen muß, die ihm unverständlich sind. Da hast du nun, Zusammenkünfte unter vier Augen abgerechnet, von denen ich nichts weiß noch wissen werde, Alles, was die geselligen Verbindungen hier zu Lande Herzliches und Liebevolles bieten.
Wenn mitten unter dem Allen irgend ein Mann von Gewicht etwas Bedächtiges sagt, oder einen ernsten Gegenstand zur Sprache bringt, so richtet sich sogleich die allgemeine Aufmerksamkeit darauf; Männer, Frauen, alte und junge Leute, Alles ist bei der Hand ihn unter allen Gesichtspunkten zu betrachten und es ist zum Erstaunen, wie viel Sinniges und Vernünftiges alle diese Sausewinde vorzubringen wissen
[Wofern nicht ein Witz wieder dazwischen fährt und aller Ernsthaftigkeit ein Ende macht; denn alsdann überbietet sich gleich alle Weit. Alles geht durch und es ist nicht möglich, wieder in den ernsthaften Ton zu kommen. Ich erinnere mich einer Handvoll Bretzeln, die eine Jahrmarktskomödie komisch in Verwirrung brachte; die Schauspieler waren aber lauter Thiere. Wie viele Dinge sind für viele Menschen solche Bretzeln! Es ist bekannt, wen Fontanelle mit dem Tirynthiervolk (Todtengespräche: Parménisque et Théocrite de Chio) schildern wollte.]
. Ein moralisches Thema könnte in einer Gesellschaft von Philosophen nicht besser abgehandelt werden, als es in dem Cirkel einer
hübschen Frauen von Paris geschiet; es würden dort sogar oft weniger strenge Schlüsse gezogen werden: denn der Philosoph, der nach seinen Worten thun will, sieht erst zweimal zu; hier aber, wo alle Moral ein bloßes Gerede ist, kann man seine Forderungen hoch spannen, ohne weitere Folgen, und man nimmt es sich auch wohl nicht übel, um den philosophischen Stolz ein wenig zu dämpfen, der Tugend eine so hohe Stelle zu geben, daß der Weise selber sie nicht erreichen kann. Uebrigens kommen Alle, Männer und Frauen, belehrt durch die Welterfahrung und durch ihr eigenes Gewissen, darin überein, so schlecht als möglich von dem Menschengeschlecht zu denken, indem sie stets einer trübseligen Philosophie huldigen, stets aus Eitelkeit die menschliche Natur herabsetzen, stets das Gute was geschieht aus irgend einem schlechten Beweggrunde ableiten, stets, ihrem eigenem Herzen nach, dem Herzen des Menschen Uebles nachreden.
Dieser herabwürdigenden Weisheit ungeachtet, ist bei diesen friedlichen Unterhaltungen einer der Lieblingsgegenstände immer das Sentiment; wobei man nicht an eine trauliche Herzensergießung in den Busen der Liebe oder der Freunschaft denken muß — das wäre ja zum Sterben langweilig — sondern es ist die Empfindung gemeint, die man in hochtönende allgemeine Sätze destilirt und auf alle möglichen metaphysischen Subtilitäten abgezogen hat. Ich kann sagen, daß ich in meinem Leben nicht so viel von Empfindungen sprechen gehört und so wenig begriffen habe, was damit gemeint sei. Es ist lauter ungenießbares Raffinement. O Julie, unsere plumpen Herzen haben nie etwas geahnt von allen diesen schönen Grundsätzen, und ich fürchte, daß es mit der Empfindung den Weltleuten geht, wie den Pedanten mit dem Homer, die aus ihm tausend eingebildete Schönheiten herausklauben, weil sie seine wirklichen Schönheiten nicht fassen. Sie geben so alle ihre Empfindung im Geist aus: und es verdampft davon im
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