Julie oder Die neue Heloise
brave Mann, dessen Wünsche sie gekrönt hat, voll Achtung und Liebe für sie, lebt nur dafür, sie liebzuhaben, sie anzubeten, sie glücklich zu machen; und ich genieße das unaussprechliche Entzücken, Zeugin zu sein von dem Glücke meiner Freundin, das heißt, es zu theilen. Du wirst nicht weniger innigen Antheil nehmen, weiß ich gewiß, du, den sie immer so herzlich liebte, du, der du ihr fast von Kindheit auf theuer warst und dem so viele Wohlthaten sie noch theurer machen müssen. Ja, Alles, was sie fühlt, wird in unseren Herzen mitempfunden. Ist es für sie ein freudiges Gefühl, so ist es ein tröstliches für uns, und solchen Werth hat die Freundschaft, die uns vereint, daß das Glück des einen von uns dreien genug ist, um den beiden anderen ihre Leiden zu versüßen.
Verhehlen wir uns indessen nicht, daß diese unvergleichliche Freundin uns zum Theil genommen sein wird.
Für sie beginnt nun eine neue Lebensordnung; sie hat neue Verbindlichkeiten, hat neue Pflichten auf sich genommen; und ihr Herz, das nur uns gehörte, muß sich jetzt anderen Regungen hingeben, denen die Freundschaft den ersten Rang einräumt. Und noch mehr, mein Freund, wir müssen auch unsererseits gewissenhafter sein in Bezug auf die Freundschaftsbeweise, die wir von ihr in Anspruch nehmen; wir dürfen nicht mehr darauf allein sehen, wie lieb sie uns hat, und wie sehr wir ihrer bedürfen, sondern auf das, was sich für ihren neuen Stand schickt und was ihrem Manne angenehm sein oder mißfallen könnte. Wir haben nicht erst nöthig, zu untersuchen, was wohl in solchem Falle die Tugend erheischte, die Gesetze der Freundschaft allein sind ausreichend. Würde Der verdienen einen Freund zu haben, der fähig wäre, ihn um eigenen Vortheils willen in Unannehmlichkeiten zu verwickeln? Als sie Mädchen war, war sie frei, hatte nur sich selbst wegen ihrer Schritte Rechenschaft zu geben, und ihre gute Absicht war hinreichend, sie in ihren eigenen Augen zu rechtfertigen, Sie betrachtete uns wie zwei für einander bestimmte Gatten, und indem ihr gefühlvolles und reines Herz die keuscheste Schamhaftigkeit für ihren Theil mit dem zärtlichsten Mitgefühl für ihre strafbare Freundin verband, deckte sie meine Schuld zu, ohne sie zu theilen. Aber jetzt ist Alles anders geworden; sie ist einem Andern für ihr Betragen Rechenschaft schuldig; sie hat nicht nur ihre Treue angelobt, sie hat sich ihrer Freiheit entäußert. Mit der Ehre zweier Personen zugleich betraut, ist es für sie nicht genug, ehrbar, sie muß auch in Ehren sein; nicht genug, nichts zu thun als was Recht ist, sie muß auch nichts thun, was Mißbilligung finden könnte. Eine tugendhafte Frau muß nicht nur die Achtung ihres Mannes verdienen, sondern sie sich auch gewinnen; wenn er sie tadelt, ist sie tadelnswerth, und, wäre sie auch unschuldig, sie hat schon Unrecht, sobald sie in Verdacht fällt, denn selbst den Schein zu wahren, gehört zu ihren Pflichten.
Ich weiß nicht gewiß, ob alle diese Gründe gut sind, du wirst darüber urtheilen; aber ein gewisses inneres Gefühl sagt mir, daß es nicht gut ist, wenn meine Cousine noch ferner meine Vertraute bleibt, und ebensowenig, daß sie es mir zuerst sage. Ich habe oft in meinen Vernunftschlüssen fehlgegriffen, nie haben mich die inneren Regungen, welche mich zu ihnen führten, mißleitet, und daher habe ich mehr Vertrauen zu meinem Instinkt als zu meiner Vernunft.
Diesem Grundsatze zufolge habe ich denn schon einen Vorwand ergriffen, deine Briefe von ihr zurückzufordern, welche ich, aus Furcht vor Entdeckung, ihr in Verwahrung gegeben hatte. Sie gab sie mir, und mit beklommenem Herzen, wie mein eigenes mir wohl verrieth, aber ich fand darin die Bestätigung, daß ich gethan hatte, was sich gehörte. Wir haben uns mit keinem Worte verständigt, aber unsere Blicke sagten Alles; sie umarmte mich weinend; wir sprachen kein Wort und fühlten, wie wenig die zärtliche Sprache der Freundschaft der Worte bedarf.
Wegen einer Adresse an der Stelle der ihrigen hatte ich zuerst an Fanchon Anet gedacht und es wäre allerdings der sicherste Weg gewesen, den wir wählen konnten; aber wenn diese junge Frau von geringerem Stande ist als meine Cousine, ist das ein Grund, im Punkte der Ehrbarkeit weniger Rücksicht für sie zu haben? Ist nicht im Gegentheil zu fürchten, daß bei minder gehobenem Gefühle mein Beispiel ihr gefährlicher werde, daß was für die Eine nur das Opfer einer erhabenen Freundschaft war, der Anderen zu einem Anfang der
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