Julie oder Die neue Heloise
Verderbniß werde, und daß ich durch Mißbrauch ihrer Erkenntlichkeit die Tugend selber zwinge dem Laster zum Werkzeuge zu dienen? Ach, ist es nicht schon genug für mich, strafbar zu sein? Soll ich noch Mitschuldige machen und mein Unrecht mit der Last fremden Unrechts vergrößern? Nein, denken wir nicht daran, mein Freund! ich habe ein anderes Mittel ausgedacht, das allerdings weniger sicher, aber doch weniger verwerflich ist, da es Niemanden compromittirt und uns keinen Vertrauten auflädt; nämlich, daß du mir unter einem aus der Luft gegriffenen Namen schreibst, wie z. B, Herrn Du Bosquet
[Du Bosquet „Vom Gebüsch“, eine Anspielung auf die Kußgeschichte im Bosket. S. Abth. I. Br. 14. D. Ueb.]
und darüber ein Couvert an Regianino machst, dem ich die nöthige Anweisung geben werde. So wird Regianino selber um nichts wissen, höchstens Vermuthungen hegen, die er nicht weiter zu verfolgen wagen wird, denn Milord Eduard, von dem sein Glück abhängt, hat mir für ihn gut gesagt. Während unsere Correspondenz auf diesem Wege fortgeht, will ich sehen, ob wir wieder jenen, der uns während deiner Reise nach dem Wallis diente, oder irgend einen andern einschlagen können, der dauernder und sicherer ist.
Wenn ich nicht den Zustand deines Herzens kennte, würde ich an der Verstimmung, die in deinen Berichten herrscht, merken, daß das Leben, welches du führst, nicht nach deinem Geschmacke ist. Die Briefe des Herrn von Muralt, über die man sich in Frankreich beschwert hat, waren weniger scharf als die deinigen; wie ein Kind, das ärgerlich auf seine Lehrmeister ist, rächst du dich dafür, daß du gezwungen bist die Welt zu studiren an den ersten die sie dich kennen lehren. Was mich am meisten Wunder nimmt, ist, daß dich gerade das zuerst aufbringt, was sonst alle Fremden einnimmt, nämlich das freundliche Entgegenkommen der Franzosen und im Allgemeinen ihr geselliger Ton, wiewohl du dich nach deinem eigenen Geständnisse des Besten in dieser Hinsicht zu rühmen hast. Ich habe die Unterscheidung nicht vergessen, die du zwischen Paris im besonderen und der großen Stadt überhaupt machtest, aber während du ungewiß bist, was hierhin und was dorthin gehöre, sehe ich doch, daß du deine Kritik auf alle Fälle machst, ehe du noch weißt, ob es böse Nachrede oder richtige Beobachtung ist. Wie dem nun sei, ich liebe die französische Nation und du erzeigst mir nichts Angenehmes, wenn du schlecht von ihr sprichst. Ich verdanke den guten Büchern, die uns von ihr zukommen, das Meiste von dem, was wir mit einander gelernt haben
[Vgl. „Bekenntn.“ Th. 3. S. 12 bis 14. D. Ueb.]
. Wenn unser Land nicht mehr barbarisch ist, wem sind wir den Dank dafür schuldig? Die beiden größten, die beiden tugendhaftesten Menschen der Neuzeit, Catinat, Fénelon, waren beide Franzosen; Heinrich IV. war es, der König, den ich liebe, der gute König. Wenn Frankreich nicht das Land der Freien ist, so ist es doch das Land der Wahren, und die eine Freiheit ist so viel werth alsdie andere in den Augen des Weisen. Gastfrei und hülfreich dem Fremden, lassen ihm die Franzosen selbst die Wahrheit hingehen, welche sie verletzt, und man würde in London gesteinigt werden, wenn man dort halb so viel Böses von den Engländern sagte, als die Franzosen von sich in Paris sagen lassen. Mein Vater, der sein Leben in Frankreich zugebracht hat, spricht nur mit Entzücken von diesem guten, liebenswürdigen Volke. Wenn er dort im Dienste des Monarchen sein Blut vergossen hat, so hat der Fürst ihn nach seiner Entlassung nicht vergessen und beehrt ihn noch mit seinen Wohlthaten; so sehe ich mich betheiligt bei dem Ruhme eines Landes an, in welchem mein Vater den seinigen gefunden hat. Mein Freund, wenn doch jedes Volk seine guten und seine schlechten Eigenschaften hat, so halte auch die Wahrheit im Loben ebenso in Ehren als im Tadeln!
Ich will dir noch mehr sagen: warum willst du die Zeit, welche du dort zuzubringen hast, in müßigen Visiten verlieren? Ist Paris weniger als London ein Schauplatz für Talente und machen daselbst Fremde weniger leicht ihren Weg? Glaube mir, nicht alle Engländer sind Lord Eduard's, und es gleichen nicht alle Franzosen jenen Schönrednern, die dir so sehr mißfallen. Schau dich einmal um, thu' einen Schritt, versuche einmal, wäre es auch nur, um die Sitten tiefer zu ergründen und die Leute am Werke zu sehen, die so gut zu reden wissen. Der Vater meiner Cousine sagt, du kenntest die Verfassung des Reiches und die
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