Julie oder Die neue Heloise
keiner Frau sich einzeln in offner Loge zu zeigen, selbst nicht mit ihrem Manne oder auch einem anderen Manne. Es ist unsäglich schwer, derartige Partien in dieser sonst so geselligen Stadt zu Stande zu bringen; von zehn, die man verabredet, schlagen neun fehl: die Lust in's Schauspiel zu geben knüpft den Bund, das Mißbehagen, zusammen hinzugehen, zerreißt ihn wieder. Ich glaube, die Frauen könnten diesen, ungeschickten Brauch leicht abschaffen, denn was für einen Grund hat es, sich öffentlich nicht einzeln zeigen zu dürfen? Vielleicht aber erhält sich der Brauch eben deswegen, weil er keinen Grund hat. Es ist zweckmäßig, den Anstand so viel als möglich in Dinge zu setzen, bei denen man durch Verletzung desselben nichts gewinnen kann. Was würde es einer Frau für Vortheil bringen, wenn sie das Recht hätte, ohne Gefährtin in die Oper zu gehen? Ist esnicht viel mehr werth, sich dieses Recht zu versparen, um seine Freunde privatim aufzunehmen?
Es ist sicher, daß von dieser Gelegenheit, abgesondert und vereinzelt unter Männern zu leben, tausend geheime Liaisons die Frucht sein müssen. Alle Welt räumt das heut zu Tage ein, und die abgeschmackte Meinung, daß man die Versuchung besiegen könne, indem man sie vervielfältigt, ist von der Erfahrung widerlegt. Man sagt also nicht mehr, dieser Brauch sei anständiger, sondern nur, er sei angenehmer, und das ist, meiner Meinung nach, eben so wenig wahr, denn was kann da für Liebe herrschen, wo die Schamhaftigkeit zu Spott gemacht ist? Und welchen Reiz kann ein Leben haben, dem die Liebe wie die Sitte fehlt? Auch ist es den Frauen hier, wie denn Langweile überhaupt die größte Plage aller dieser zerfahrenen Menschen ist, weniger darum zu thun, geliebt zu werden, als sich zu amüsiren, Galanterie und Aufmerksamkeiten gelten bei ihnen mehr als Liebe, und wenn man nur beharrlich ist, so fragen sie nicht danach, ob es aus Leidenschaft geschieht. Selbst die Worte Liebe und Liebster sind aus dem vertrauten Umgange der beiden Geschlechter verbannt und nebst denen wie „Bande" und „Flamme" in die Romane verwiesen, die man nicht mehr liest.
Die ganze natürliche Ordnung der Gefühle scheint hier umgekehrt. Das Herz knüpft keine Bande; es ist den jungen Mädchen gar nicht erlaubt, ein Herz zu haben; dieses Recht ist den verheirateten Frauen vorbehalten und schließt von ihrer Wahl Niemanden aus als ihren Mann. Besser, daß die Mutter zwanzig Liebhaber als daß die Tochter Einen habe. In dem Ehebruche findet man nichts Empörendes; er ist nicht gegen die Schicklichkeit; die anständigsten Romane, die welche alle Welt zu ihrer Belehrung liest, sind voll von ihm, und die Unsittlichkeit hat nichts Tadelnswerthes mehr, sobald sie mit Untreue gepaart ist. Ach Julie, und Frauen, die sich nicht gescheut haben, hundert Mal das eheliche Bett zu besudeln, dürfen sich unterstehen, unsere keusche Liebe mit ihrem unreinen Munde anzuklagen und die Bereinigung zweier aufrichtigen Herzen, die sich nie die Treue brachen, zu verdammen? Man sollte meinen, daß die Ehe in Paris nicht dasselbe sei, was sie überall sonst ist. Sie ist, sagen sie, ein Sacrament und dieses Sacrament hat nicht die Kraft des geringfügigsten bürgerlichen Vertrages, sie scheint weiter nichts zu sein als eine Uebereinkunft zwischen zwei Personen, mit einander zu wohnen, einerlei Namen zu führen, die nämlichen Kinder ihre zu nennen, aber ohne Aufgebung ihrer Freiheit, ohne irgend eine Art Recht auf einander;
und einem Ehemanne, der sich hier einfallen ließe, auf die schlechte Aufführung seiner Frau ein Auge zu haben, würde das nicht weniger verdacht werden, als bei uns Dem, der der seinigen offenkundige Unordnungen nachsähe. Die Frauen nehmen es auch ihrerseits nicht so genau mit ihren Männern, und man sieht eben nicht, daß sie sie zur Bestrafung ziehen, wenn dieselben es in der Untreue ihnen nachthun. Uebrigens wie kann man beiderseits etwas Besseres von Bündnissen erwarten, bei denen das Herz nicht gefragt worden ist? Wer nur nach Vermögen oder Stand heiratet, ist der Person nichts schuldig.
Die Liebe selbst, auch sie hat ihre Rechte verloren und ist nicht minder ausgeartet als die ehe. Wenn die Eheleute hier Junggesellen und Jungfern sind, die mit einander Haus halten, um desto mehr in Freiheit leben zu können, so sind Liebende Personen, die einander gleichgültig sind, und sich nur Ergötzens halber, aus eitelkeit, aus Gewohnheit oder um augenbliklicher Nothdurft willen sehen; das Herz
Weitere Kostenlose Bücher