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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Natur setzt, nichts herauskommt. Ganz läßt sie sich aber nie verwischen; sie bricht immer irgendwo durch, und in einer gewissen Geschicklichkeit, sie da zu ergreifen, besteht eigentlich die Kunst der Beobachtung. Diese Kunst ist den hiesigen Frauen gegenüber nicht schwer, denn da sie mehr Natürlichkeit besitzen, als sie meinen, so darf man nur ausdauernd mit ihnen umgehen, darf sie nur von der ewigen Repräsentation, in der sie sich so sehr gefallen, losmachen, um sie bald so zu sehen wie sie wirklich sind, und dann geht alle Abneigung, die sie einem Anfangs eingeflößt haben, sicher in Achtung und Freundschaft über.
    Dies hatte ich vergangene Woche Gelegenheit bei einer Landparthie zu beobachten, zu welcher uns einige Frauen ziemlich leichtfertig eingeladen hatten, mich und einige andere Neulinge, ohne sich vorher viel Gewißheit zu verschaffen, ob wir für sie passen, oder vielleicht auch nur, um das Vergnügen zu haben, sich über uns lustig zu machen. Dies blieb denn auch am ersten Tage nicht aus. Sie überschütteten uns mit einer Wolke von feinem, spitzen Pfeilen, die alle niederfielen, ohne zurückzuprallen und so ihren Köcher bald erschöpften. Nunmehr zogen sie sich mit Anstand aus dem Handel, und da sie uns nicht in ihren Ton stimmen konnten, blieb ihnen nichts übrig, als auf den unsrigen einzugehen. Ich weiß nicht, ob ihnen bei diesem Tausche wohl war, ich befand mich vortrefflich dabei; ich sah mit Erstaunen, daß ich mich mit ihnen besser verständigen konnte als es mir mit vielen Männern möglich ist. Sie zierten mit ihrem Witze jetzt so sehr einen natürlichen Verstand, daß ich nur beklagen konnte, wie viel sie gewöhnlich thun, ihn zu verunstalten, und es that mir weh, als ich ein besseres Urtheil über die hiesigen Frauen gewann, daß so viele liebenswürdige Personen nur deshalb keine Vernunft zeigten, weil sie keine haben wollten. Ich fand, daß der Annehmlichkeit eines vertraulichen, natürlichen Umganges auch die Künstelei der städtischen Manieren unvermerkt wich; denn immer paßt man sein ganzes Benehmen unwillkührlich dem an, was gesprochen wird, und es macht sich nicht, daß man vernünftige Reden mit den Grimassen der Coketterie begleite. Ich fand sie viel artiger, seit sie sich nicht mehr so viel Mühe gaben, es zu sein, und ich fühlte, daß sie, um zu gefallen, nichts zu thun brauchten, als sich nicht zu verstellen. Ich baute hierauf die Vermuthung, daß Paris, vorgeblich der Sitz des guten Geschmackes, vielleicht derjenige Ort der Weit ist, wo man ihn am wenigsten suchen muß, weil Alles, was daselbst geschieht, um zu gefallen, nur dazu angethan ist, die wahre Schönheit zu verunstalten.
    Wir brachten so vier oder fünf Tage mit einander hin, zufrieden mit einander und jeder mit sich selbst. Anstatt Paris mit seinen Thorheiten durchzuhecheln, dachten wir gar nicht an die Stadt. Wir ließen uns nichts angelegen sein, als den Genuß einer angenehmen, holden Geselligkeit. Wir hatten keine Spöttereien und Satyren nöthig, um uns zu erheitern, und unser Gelächter kam nicht aus Bosheit, sondern aus frohem Uebermuth, wie bei deiner Cousine.
    Noch ein Umstand machte mich Vollends anderer Meinung über die hiesigen Frauen. Oft, während wir mitten im lebhaftesten Gespräche waren, kam Jemand, der der Frau vom Hause etwas in's Ohr sagte. Sie ging hinaus, schloß sich in ihr Cabinet ein, um zu schreiben, und kam lange nicht wieder. Es war nichts leichter, als bei diesen Empfindungen auf eine Herzenscorrespondenz zu muthmaßen oder doch was hier so heißt. Eine andere Frau ließ darüber ein Wort fallen, das jedoch üble Aufnahme fand; ich schloß daraus, daß, wenn die Abwesende keine Liebe aber hätte, sie wenigstens Freunde haben müsse. Aber aus Neugier forschte ich weiter und wie erstaunt war ich, als ich hörte, daß die vermeintlichen Grisons von Paris nichts als Bauern aus dem Kirchspiel wären, welche sich in bedrängter Lage an ihre Dame wandten, um deren Protection zu erbitten, der eine, weil man ihn zu Gunsten eines Reicheren übersteuert, der andere, weil man ihn ohne Rücksicht auf sein Alter und seine Kinder enrolirt hatte
[Im vorigen Kriege geschah dergleichen; im gegenwärtigen nicht, so viel ich weiß. Man schont die verheirateten Männer und hat dadurch viel Anlaß zum Heiraten gegeben.]
, dieser von einem mächtigen Nachbar durch einen ungerechten Prozeß erdrückt, jener durch Hagelschaden ruinirt, indessen die Pacht mit Strenge vonihm eingetrieben wurde; kurz,

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