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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Alle hatten um irgend eine Gnade zu bitten. Alle wurden mit Geduld angehört, keiner wurde abgewiesen, und die Zeit, welche wir Liebesbriefchen zugetheilt hatten, diente Schreibereien zu Gunsten dieser Unglücklichen. Ich kann dir nicht sagen, wie erstaunt ich war, daß eine so junge und in Zerstreuungen lebende Frau so viel Vergnügen daran findet, dergleichen liebenswürdige Pflichten zu erfüllen, und ohne im Geringsten Prunk damit zu treiben. Wie? sagte ich ganz gerührt; wenn es Julie wäre, könnte sie nicht anders handeln. Von dem Augenblick an habe ich diese Frau nur noch mit Achtung angesehen und alle ihre Fehler sind in meinen Augen ausgelöscht.
    Sobald meine Aufmerksamkeit einmal auf diese Seite gelenkt war, erfuhr ich tausenderlei Vortheilhaftes über dieselben Frauen, welche ich Anfangs so unausstehlich gefunden hatte. Alle Fremde stimmen darin überein, daß, wenn man das Modegeschwätz fern hält, kein Land der Welt Frauen aufzuweisen hat von aufgeklärteren Begriffen und die im Allgemeinen sinniger und verständiger zu sprechen und nöthigen Falls besser Rath zu geben wüßten. Von dem galanten und schöngeistigen Geplauder ganz abgesehen, was hat man von der Unterhaltung einer Spanierin, einer Italienerin, einer Deutschen? Nichts, und du weißt, Julie, wie es gemeinlich mit unseren Schweizerinnen bestellt ist. Habe jedoch Einer den Muth, für nicht sehr galant gelten zu wollen und die Französinnen aus dieser Festung zu treiben, aus der sie allerdings nicht gern herausgehen, so findet er Personen, mit denen sich auf offenem Felde sprechen läßt, und man glaubt mit Männern zu streiten, so trefflich wissen sie sich mit Vernunft zu bewaffnen und aus der Noth eine Tugend zu machen. Was die Charaktergüte betrifft, so will ich kein Gewicht darauf legen, daß sie ihren Freunden mit großem Eifer dienen, denn es könnte wohl darin etwas Eigennutz mitspielen, wie überall in der Welt; aber wie sie gemeinlich nichts lieben als sich selbst, so bringt doch die Länge der Gewohnheit, wenn sie Beständigkeit genug haben, sich solche zu erwerben, auch bei ihnen das hervor, was sonst nur eine schon recht lebhafte Neigung wirkt. Diejenigen, welche ein Attachement von zehn Jahren durchsetzen können, behalten es gewöhnlich ihr ganzes Leben bei, und sie lieben ihre alten Freunde inniger, wenigstens treuer als ihre jungen Liebhaber.
    Es ist eine ziemlich gewöhnliche Bemerkung, und wie es zunächst scheint, nicht zur Ehre der Frauen, daß durch sie hier zu Lande Alles geschieht: mithin mehr Böses als Gutes; aber zu ihrer Rechtfertigung dient, daß sie das Böse von den Männern getrieben, das Gute aber aus eigener Bewegung thun. Das widerspricht nicht dem zuvor Erwähnten, daß das Herz bei dem Umgang der beiden Geschlechter keine Rolle spielt, denn die französische Galanterie hat den Frauen eine unumschränkte Macht eingeräumt, die zu ihrer Behauptung keines zärtlichen Gefühles bedarf. Alles hängt von ihnen ab, nichts geschieht anders als durch sie oder ihretwegen; Olymp und Parnaß, Ruhm und Glück stehen gleichermaßen unter ihrem Gesetze. Ein Buch hat keinen Werth, ein Schriftsteller erwirbt keinen Beifall, als insoweit es den Frauen gefällig ist; sie entscheiden in Machtvollkommenheit über die höchsten Gegenstände der Erkenntniß wie über die angenehmsten. Poesie, Literatur, Philosophie, selbst Politik — man sieht es den Büchern gleich am Style an, daß sie zur Belustigung hübscher Frauen geschrieben sind, und auch die Bibel hat man in galante Geschichten gebracht
[L'Histoire du peuple de Dieu vom Pater Berruyer. Erster Theil, 1728; zweiter Th. 1753. D. Ueb.]
. In den Geschäften erlangen sie Alles, was sie durchsetzen wollen, durch ein natürliches Uebergewicht, das sich selbst auf ihre Männer erstreckt, nicht weil dieselben ihre Männer, sondern weil sie Männer sind, und weil es hergebracht ist, daß ein Mann einer Frau Nichts abschlägt, und wäre es seine eigene.
    Uebrigens setzt diese Macht keinerlei persönliche Zuneigung oder Werthschätzung voraus, sondern nur Höflichkeit und den Weltton, denn nebenbei gehört es eben so wesentlich zur französischen Galanierie, die Frauen zu verachten, als ihnen zu dienen. Diese Verachtung ist eine Art Rechtstitel auf ihre Ehrfurcht, ein Beweis, daß man genug mit ihnen gelebt hat, um sie zu kennen. Wer ihnen Hochachtung beweisen wollte, gäbe sich dadurch als einen Novizen zu erkennen, als einen Paladin, einen Mann, der die Frauen nur aus Romanen

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