Julie oder Die neue Heloise
mir einzig angelegen sein lassen, die Pflichten zu erfüllen, welche mir die Dankbarkeit gegen Milord Eduard auflegt: er will mich mit nach England schleppen; ich könnte ihm da von Nutzen sein, behauptet er. Nun wohl: ich werde mit ihm gehen; aber alle Jahre werde ich mich fortstehlen, und mich heimlich in deine Nähe begeben. Wenn ich dich nicht sprechen kann, werde ich dich wenigstens gesehen haben; ich werde wenigstens deine Fußtapfen geküßt haben; ein Blick von deinen Augen wird mir zehn Monate Leben gegeben haben. Wenn ich dann wieder scheiden muß, so werde ich, mich entfernend von der Geliebten, zu meinem Troste die Schritte zählen, die mich zu ihr zurückführen sollen. Diese wiederholten Reisen werden deinen unglücklichen Liebhaber über sein Loos täuschen; er wird schon deinen Anblick zu genießen glauben, wenn er aufbricht, um dich zu sehen; die Erinnerung an sein Entzücken wird ihn auf der Rückreise bezaubern; dem grausamen Schicksal zum Trotze werden seine traurigen Jahre nicht ganz und gar verloren sein; es wird keines sein, das nicht mit einer Freude bezeichnet wäre, und die kurzen Augenblicke, die er in deiner Nähe zubringen wird, werden genug sein, um sein ganzes Leben auszufüllen.
Siebzehnter Brief.
Frau von Orbe an Juliens Liebsten.
Sie haben keine Geliebte mehr; ich aber habe meine Freundin wieder gefunden und Sie haben eine erlangt, deren Herz Ihnen weit mehr erstatten kann, als Sie verloren haben. Julie ist verheiratet und werth, den braven Mann glücklich zu machen, der sein Schicksal mit dem ihrigen verbunden hat. Nach so vielen unklugen Streichen müßt ihr dem Himmel danken, der euch alle beide gerettet hat, Julie vor der Schande, und Sie vor dem Leide, sie hineingestürzt zu haben. Achten Sie ihren neuen Stand, schreiben Sie ihr nicht, sie bittet Sie darum. Warten Sie, bis sie Ihnen schreibt, sie wird es in Kurzem thun. Jetzt ist die Zeit, da ich erkennen werde, ob Sie die Achtung verdienen, die ich für Sie hegte, und ob Ihr Herz für eine reine und uneigennützige Freundschaft empfänglich ist.
Achtzehnter Brief.
Julie an ihren Freund.
So lange habe ich Ihnen alle Geheimnisse meines Herzens anvertraut, daß es sich von der süßen Gewohnheit nicht mehr losmachenkann. In dem wichtigsten Falle meines Lebens will es sich gegen Sie ausschütten: öffnen Sie ihm das Ihrige, mein liebenswürdiger Freund; sammeln Sie in Ihren Busen die langen Reden der Freundschaft: wenn sie je zuweilen den Freund, der spricht, weitschweifig macht, so macht sie dafür immer den Freund, der hört, geduldig.
Durch ein unauflösliches Band an das Schicksal eines Gatten oder vielmehr an den Willen eines Vaters gefesselt, trete ich in eine neue Laufbahn, die nur mit dem Tode enden soll. Bei ihrem Beginne lassen Sie uns einen Blick auf diejenige werfen, aus der ich trete; es wird ja nicht peinlich sein, uns eine so liebe Zeit zurückzurufen; vielleicht finde ich dabei Lehren, die ich mir für die Folge merken kann, Sie vielleicht Aufklärung über Manches, was Ihnen in meinem Betragen dunkel geblieben. Wenigstens werden unsere Herzen, indem wir betrachten, was wir einander waren, nur umso besser fühlen, was sie einander bis an's Ende unserer Tage schuldig sind.
Es ist ungefähr sechs Jahre her, als ich Sie zum ersten Male sah: Sie waren jung, wohlgebildet, liebenswürdig. Andere junge Leute haben mir schöner und stattlicher geschienen; keiner hat mich in die geringste Aufregung versetzt, und mein Herz gehörte Ihnen vom ersten Augenblicke an
[Herr Richardson spottet viel über solche Zuneigungen, die beim ersten Sehen entstehen und auf unerklärlichen Seelenverwandtschaften beruhen. Es ist recht gut und schön, daß er darüber spottet, aber da es nun doch solche Zuneigungen nur zu häufig giebt, wäre es nicht besser, anstatt sich mit Leugnen derselben ein Spiel zu machen, lieber die Mittel zu lehren, wie man ihrer Herr werden kann?]
. Ich glaubte, auf Ihrem Gesichte eine Seele abgeprägt zu sehen, wie sie der »einigen noth that. Es schien mir, daß meine Sinne edleren Gefühlskräften nur zum Organe dienten, und ich liebte an Ihnen weniger, was ich sah, als was ich in mir selbst zu fühlen glaubte. Es sind noch nicht zwei Monate, da glaubte ich noch, mich nicht getäuscht zu haben: die blinde Liebe, sagte ich mir, hatte Recht; wir waren für einander geschaffen; ich würde ihm gehören, wenn die menschliche Ordnung nicht die natürlichen Bezüge verstörte, und wenn es Menschen irgend
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