Julie oder Die neue Heloise
nicht glücklich sein konnte; ich unterlag aus Schwäche, nicht aus Irrthum: ich kann mich nicht damit entschuldigen, daß ich verblendet gewesen wäre. Es blieb mir keine Hoffnung; ich konnte nicht mehr anders als unglücklich sein. Unschuld und Liebe, beide waren mir gleich nothwendig; da ich sie nicht beide zugleich bewahren konnte, und da ich Ihre Verstörung sah, nahm ich nur auf Sie bei meiner Wahl Bedacht, und richtete mich zu Grunde, um Sie zu retten.
Es ist aber nicht so leicht, als man denkt, der Tugend zu entsagen; sie quält Die, welche von ihr weichen, noch lange Zeit, und ihre Reize, welche die Wonne reiner Seelen sind, machen die vornehmste Marter des Bösen aus, der sie noch liebt, und ihrer nicht mehr genießen kann. Strafbar, ohne verderbt zu sein, konnte ich den Gewissensbissen nicht entrinnen, die meiner warteten; die Ehrbarkeit war mir theuer, selbst nachdem ich sie verloren hatte; meine Schande war mir deshalb, weil sie geheim war, nicht minder bitter, ja, wenn der ganze Erdkreis Zeuge davon gewesen wäre, hätte ich sie nicht stärker fühlen können. Ich tröstete mich in meinem Schmerze wie ein Verwundeter, der den kalten Brand fürchtet und daraus, daß er noch Schmerz fühlt, Hoffnung schöpft, geheilt zu werden.
Indessen war mir dieser Zustand der Schmach unleidlich. Indem ich den Vorwurf ersticken wollte, ohne dem Verbrechen zu entsagen, begegnete mir, was jeder redlichen Seele begegnet, die sich verirrt, und sich in ihrer Verirrung gefällt. Eine neue Vorspiegelung, die ich mir machte, milderte die Bitterkeit der Reue; ich hoffte aus meinem Fehltritt selbst ein Mittel zu gewinnen, um ihn wieder gut zu machen, und ich entwarf den kühnen Plan, meinen Vater zu zwingen, daß er uns vereinige. Die erste Frucht unserer Liebe sollte das süße Band knüpfen; ich forderte sie vom Himmel als das Unterpfand meiner Rückkehr zur Tugend und unseres gemeinsamen Glückes; ich wünschte sie so sehr, als eine Andere an meiner Stelle sie vielleicht gefürchtet hätte. Die zärtliche Liebe, mit ihren Gaukeleien das murrende Gewissen besänftigend, tröstete mich über meine Schwachheit durch die Wirkung, welche ich mir davon versprach, und machte mir aus einer so lieben Erwartung den Reiz und die Hoffnung meines Lebens.
Sobald sich sichtliche Merkmale meines Zustandes einstellen würden, hatte ich beschlossen, ihn in Gegenwart meiner Familie dem Herrn Perret
[Dem Ortspfarrer.]
frei und offen zu bekennen. Ich bin freilich furchtsam: ich fühlte, wie schwer es mir werden würde; aber die Ehre selbst spornte meinen Muth, und ich wollte lieber das eine Mal die Beschämung auf mich nehmen, die ich verdient hatte, als ewig die Schande im Grunde meines Herzens nähren. Ich wußte, daß mir mein Vater entweder den Tod oder meinen Geliebten geben würde; diese Ungewißheit hatte nichts Erschreckendes für mich, und auf eine oder die andere Weise erblickte ich in diesem Schritte das Ende aller meiner Leiden.
Dies, mein lieber Freund, war das Geheimniß, welches ich Ihnen nicht entdecken wollte, und welches Sie mit so neugieriger Unruhe zu durchdringen suchten. Tausend Gründe nöthigten mich zu dieser Zurückhaltung einem so hitzigen Manne gegenüber, wie Sie sind, ohne zu rechnen, daß es nicht wohl gethan war, Ihrem rücksichtslosen Dringen einen neuen Vorwand zu liefern. Vor allen Dingen war es zweckmäßig, Sie von einem so gefahrvollen Auftritt entfernt zu halten, und ich wußte doch, daß Sie sich nie dazu verstanden haben würden, mich in einer solchen Gefahr allein zu lassen, wenn Sie darum gewußt hätten.
Ach! auch diese süße Hoffnung trog mich. Der Himmel machte den verbrecherisch gefaßten Plan zu Schanden: ich verdiente nicht die Ehre, Mutter zu werden; meine Erwartung blieb unerfüllt, und es war mir versagt, meinen Fehltritt auf Kosten meines Rufes zu büßen. Sie haben erfahren
[Dies läßt einen Brief vermuthen, den wir nicht haben.]
, welcher Zufall mit dem Keim, den ich in meinem Schoße trug, den letzten Grund meiner Hoffnungen zerstörte. Dieses Unglück traf mich gerade in der Zeit unserer Trennung, als hätte der Himmel damals alle Uebel auf mich häufen wollen, die ich verdient hatte, und alle Bande zu gleicher Zeit zerreißen, die zu unserer Vereinigung dienen konnten.
Ihr Scheiden war das Ende meiner Verirrungen wie meiner Freuden: ich erkannte, aber zu spät, mit was für falschen Einbildungen ich mich hintergangen hatte. Ich erblickte mich so verächtlich, wie ich es war, und so
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