Julie oder Die neue Heloise
durch meine Nachlässigkeit das Uebel einwurzelte, und daß die Gewohnheit gefährlicher war als die Liebe. Gerührt von Ihrer Zurückhaltung, glaubte ich ohne Gefahr die meinige einschränken zu können; in der Unschuld meiner Wünsche dachte ich durch Liebkosungen, wie sie die Freundschaft bietet, in Ihnen nur die Tugend aufzumuntern. Ich erfuhr in dem Gebüsch von Clarens, daß ich zu sehr auf mich gerechnet hatte, und daß man den Sinnen nichts bewilligen muß, wenn man ihnen etwas verweigern will. Ein Augenblick, ein einziger Augenblick entzündete in mir eine Glut, die nichts löschen konnte, und wenn mein Wille noch widerstand, so war doch von Stund' an mein Herz verleitet.
Sie theilten meine Verirrung: Ihr Brief machte mich zittern. Die Gefahr war doppelt; um mich vor Ihnen und vor mir selbst zu beschützen, mußte ich Sie entfernen. Dies war die letzte Anstrengung einer sterbenden Tugend. Durch Ihre Flucht vollendeten Sie Ihren Sieg, und sobald ich Sie nicht mehr sah, nahm mir die Sehnsucht auch das Bißchen Kraft, das ich noch hatte, Ihnen zu widerstehen.
Mein Vater hatte, als er den Dienst verließ, Herrn von Wolmar mit nach Hause gebracht; er verdankte ihm seine Lebensrettung und war zwanzig Jahre eng mit ihm verbunden gewesen: das machte ihm diesen Freund so theuer, daß er sich nicht von ihm trennen konnte. Herr von Wolmar war schon bei vorgerückten Jahren, hatte aber, obwohl reich und von hoher Geburt, keine Frau gefunden, die ihm zusagte. Mein Vater hatte ihm von seiner Tochter erzählt, und dabei den Wunsch gehegt, seinen Freund zum Schwiegersohn zu haben; es kam darauf an, sie zu sehen und in dieser Absicht machten sie die Reise zusammen. Mein Schicksal wollte, daß ich Herrn von Wolmar gefiel, der nie zuvor geliebt hatte. Sie gaben sich im Geheimen das Wort, und da Herr von Wolmar viele Angelegenheiten an einem nordischen Hofe in Ordnung zu bringen hatte, wo sich seine Familie und sein Vermögen befand, so erbat er sich Zeit hierzu, nachdem er mit meinem Vater einig geworden war. Als er fort war, erklärte uns mein Vater, meiner Mutter und mir, daß er ihn mir zum Gatten bestimmte, und befahl mir in einem Tone, der mich bei meiner Schüchternheit nicht zur Widerrede kommen ließ, mich darauf gefaßt zu halten, ihm meine Hand zu reichen. Meine Mutter, welche die Neigung meines Herzens nur zu gut bemerkt hatte, und sich zu Ihnen von Natur hingezogen fühlte, versuchte mehrmals, seinen Entschluß wankend zu machen. Sie vorzuschlagen wagte sie nicht, sprach aber doch so von Ihnen, daß mein Vater Achtung für Sie gewann und Sie kennen zu lernen wünschte, aber die Eigenschaft, die Ihnen fehlte, machte ihn gleichgültig gegen alle, die Sie besaßen, und wenn er auch zugab, daß die Geburt diese nicht ersetzen könnte, behauptete er doch, daß sie allein ihnen Werth geben könnte.
Die Unmöglichkeit, mein Glück zu erlangen, entzündete in mir ein Feuer, welches sie hätte auslöschen sollen. Ein schmeichelnder Wahn hielt mich in meiner Bekümmerniß aufrecht; mit ihm verlor ich die Kraft, sie auszuhalten. So lange mir noch einige Hoffnung geblieben war, Sie zu besitzen, würde ich vielleicht den Sieg über mich davon getragen haben; es würde mir weniger schwer gefallen sein, Ihnen mein Leben lang zu widerstehen, als Ihnen aus immer zu entsagen; und der bloße Gedanke an einen ewigen Kampf nahm mir den Muth zu kämpfen.
Betrübniß und Liebe verzehrten wein Herz; ich fiel in eine Erschöpfung, die an meinen Briefen zu spüren war. Der, welchen Sie mir von Meillerie schrieben, setzte Allem die Krone auf; zu meinen eigenen Schmerzen kam hinzu, daß ich Ihre Verzweiflung fühlte. Ach! die schwächere Seele ist es immer, welche die Leiden aller beiden trägt, Ihr verwegener Vorschlag trieb meine Aengste auf's Aeußerste. Das Unglück meines Lebens stand fest: ich hatte nur die Wahl, ob ich es an das Unglück meiner Eltern oder an das Ihrige knüpfen wollte. Ich konnte den Gedanken dieses furchtbaren Entweder Oder nicht aushalten; alle Kräfte der Natur haben ihre Schranke, die meinigen waren durch so viele Aufregungen erschöpft. Ich wünschte das Leben los zu sein. Der Himmel schien sich meiner zu erbarmen, aber der grausame Tod verschonte mich, um mich zu verderben. Ich sah Sie, ich genas und ich ging unter.
Wenn ich in meinen Fehltritten das Glück nicht fand, so hatte ich doch auch nie gehofft, es darin zu finden. Ich fühlte, daß mein Herz für die Tugend geschaffen war, und daß es ohne sie
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