Julie oder Die neue Heloise
und Sie durch Reue in einen schlimmem Zustand zurückfallen, als jener war, dem Sie so schwer entronnen sind, Weisheit ist die Grundlage aller Tugend; ich beschwöre Sie, ziehen Sie sie zu Rathe in dem wichtigsten Falle Ihres Lebens. Und wenn dieses unselige Geheimniß Sie so schwer drückt, warten Sie wenigstens, um es sich vom Herzen zu wälzen, bis Sie im Verlaufe der Zeit. bis Sie mit den Jahren Ihren Gatten vollkommen kennengelernt haben, und bis sein Herz, außer der Wirkung Ihrer Schönheit, die sicherere Wirkung der Reize Ihres Charakters erfahren und die süße Gewohnheit angenommen hat, sie zu empfinden. Endlich, wenn diese Gründe, so gewichtig sie sind, Sie nicht überzeugen sollten, verschließen Sie nicht Ihr Ohr der Stimme, die sie Ihnen vorträgt. Julie, hören Sie auf einen Mann, der einiger Tugendfähig ist, der wenigstens für das Opfer, das er Ihnen heute bringt, auch eines von Ihnen verdient.
Ich muß schließen. Ich würde mich nicht enthalten können, ich fühle es, wieder in einen Ton zu fallen, den Sie nicht mehr hören dürfen. Julie, ich muß von Ihnen lassen! So jung noch, schon dem Glücke entsagen! O Zeit, die nicht wiederkehren soll, Zeit, die auf ewig dahin ist, Quelle unvergänglicher Schmerzen! Freudenrausch, süße Wonnen, selige Augenblicke, himmlische Entzückungen! meine Liebe, einzige Liebe, Ehre, Wonne meines Lebens, lebe wohl auf ewig!
Zwanzigster Brief.
Von Julie.
Sie fragen mich, ob ich glücklich bin. Diese Frage rührt mich, und dadurch daß Sie sie thun, erleichtern Sie mir die Antwort; denn weit entfernt, nach dem Vergessen zu trachten, wovon Sie reden, gestehe ich, daß ich nicht glücklich sein könnte, wenn Sie aufhörten mich zu lieben; aber ich bin es in jeder Hinsicht, und nichts fehlt zu meinem Glücke, als das Ihrige. Wenn ich es in meinem vorigen Briefe vermieden habe, von Herrn von Wolmar zu sprechen, so that ich es aus Schonung für Sie. Ich kannte Ihre Reizbarkeit zu sehr, um nicht zu fürchten, daß es Ihren Schmerz vermehren möchte; aber da Ihre Unruhe über mein Schicksal mich nöthigt, von Dem zu sprechen, von dem es abhängt, so kann ich es nur in einer Weise thun, wie er es verdient, nur so, wie es seiner Gattin und einer Freundin der Wahrheit geziemt.
Herr von Wolmar ist fast funfzig Jahre alt; sein einfaches geregeltes Leben und seine Gemüthsruhe haben ihm seine Constitution so kräftig und sein Aussehen so frisch erhalten, daß er kaum vierzig alt scheint, und er hat von dem vorgerückteren Alter nichts als die Erfahrung und Weisheit. Seine Züge sind edel und gewinnend, sein Benehmen ist einfach und offen; er ist höflich, aber ohne sich damit aufzudrängen; er spricht wenig; was er sagt, ist inhaltreich, ohne daß er nach Gedrungenheit und sententiösem Tone hascht. Er ist gegen Jedermann der nämliche, sucht und vermeidet Niemanden, und hat keine Vorliebe, außer für das, was vernünftig ist.
Trotz der Kälte, die ihm eigen ist, schien ihm sein Herz, den Ansichten meines Vaters entgegenkommend, zu sagen, daß ich für ihn paßte und zum ersten Male in seinem Leben faßte er eine Zuneigung. Seine gemäßigte, aber dauerhafte Neigung gab sich einen so schicklichen Ausdruck, und blieb sich darin stets so gleich, daß er seinen Ton nicht zu ändern brauchte, als sich unsere Lage änderte, und daß er, ohne dem ehelichen Ernst Eintrag zu thun, sich, seit wir verheiratet sind, gegen mich ganz ebenso benimmt wie zuvor. Ich habe ihn nie weder lustig noch traurig gesehen, aber immer zufrieden; nie spricht er von sich, selten von mir; er sucht mich nicht, aber es ist ihm nichtunlieb, wenn ich ihn suche und er verläßt mich ungern. Er lacht nicht, er ist ernsthaft, ohne Andere ernst zu machen; im Gegentheil, sein heiterer Blick scheint mich zur Fröhlichkeit aufzufordern, und da die Vergnügungen, welche ich genieße, die einzigen sind, für die er Sinn zu haben scheint, so ist das eine von den Aufmerksamkeiten, die ich ihm schuldig bin, daß ich mir Vergnügen zu machen suche. Mit Einem Worte, er will, daß ich glücklich sei: er sagt es mir nicht, aber ich sehe es, und das Glück seiner Frau wollen, heißt das nicht, es erreicht haben?
Wie sorgfältig ich ihn beobachten mochte, ich habe keine Art von Leidenschaft an ihm entdecken können, außer der, die er für mich hat. Und auch diese ist so gleichmäßig und ruhig, daß man sagen sollte, er liebt nur, soweit er will, und will nur, so weit es die Vernunft erlaubt. Er ist in Wahrheit, was
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