Julie oder Die neue Heloise
daraus entspränge. Wenn ich so ruhig wäre wie er, würde zu viel Kälte zwischen uns, und der Umgang nicht so angenehm und süß sein. Wenn er mich nicht liebte, würden wir schlecht mit einander leben; wenn er mich zu sehr geliebt hätte, würde er mir lästig geworden sein. Jeder von beiden ist gerade so, wie er dem Anderen nöthig ist; er klärt mich auf, und ich rege ihn an; wir sind verbunden beide mehr werth, und es scheint, daß wir bestimmt sind, unter uns nur Eine Seele auszumachen, deren Urtheilskraft er ist, während ich ihr Wille bin. Da ist nichts, selbst sein reifes Alter eingerechnet, was nicht zu gemeinsamem Vortheil ausschlüge; denn sicher würde ich bei der Leidenschaft, welche mich marterte, ihn, wenn er jünger gewesen wäre, noch unlieber geheiratet haben, und die Heftigkeit meines Widerstrebens würde dann vielleicht den glücklichen Umschwung verhindert haben, den ich in mir erlebte.
Freund, der Himmel erleuchtet die Wohlmeinung der Väter und belohnt die Folgsamkeit der Kinder. Gott verhüte, daß ich Ihrem Mißvergnügen Hohn sprechen wolle! Nur der Wunsch, Sie über mein Schicksal vollkommen zu beruhigen, treibt mich an, noch das hinzuzufügen, was ich jetzt sagen will. Wenn ich mit den Gefühlen, die ich ehedem für Sie hegte, und mit der Einsicht, die ich jetzt gewonnen habe, volle Macht und Freiheit hätte, mir meinen Gatten zu wählen, so würde ich, — der Gott, der mich erleuchtet hat und in meinem Herzen liest, ist mein Zeuge — ich würde nicht Sie wählen, sondern Herrn von Wolmar.
Es dient vielleicht zu Ihrer völligen Heilung, daß ich nichts vondem zurückhalte, was ich noch auf dem Herzen habe. Herr von Wolmar ist älter als ich. Wenn der Himmel, zur Strafe für meine Fehltritte, mir den würdigen Gatten nähme, den ich so wenig verdient habe, so ist mein fester Entschluß, nie einen Andern zu heiraten. Wenn er nicht das Glück gehabt hat, ein keusches Mädchen zu finden, wird er wenigstens eine keusche Witwe zurücklassen. Sie kennen mich zu gut, um zu glauben, daß ich die Frau sei, die, wenn sie eine solche Erklärung abgegeben hat, sie wieder zurücknähme
[Unsere Lage ist, ohne daß wir es wollen, vom größten Einflüsse auf das, was unser Herz bewegt: wir werden lasterhaft und schlecht, jenachdem uns unsere Interessen dazu verleiten, und leider dienen die Fesseln, die uns drücken, dazu, die Masse solcher Interessen zu vergrößern. Wenn wir Anstrengungen machen, die Unordnungen unserer Begierden zu schlichten, so ist es fast immer vergeblich und selten das Rechte. Was abgestellt werden muß, ist weniger die Begierde, als die Lage, der sie ihren Ursprung verdankt. Wenn wir gut werden wollen, so müssen wir die Verhältnisse beseitigen, welche uns daran verhindern: es giebt kein anderes Mittel Ich möchte um Alles in der Welt nicht ein Anrecht auf die Beerbung irgend eines Menschen haben, besonders eines solchen, der mir theuer sein muß, denn weiß ich, was für einen furchtbaren Wunsch mir eigene Dürftigkeit ablocken könnte? Nach diesem Grundsatze möge man Juliens Entschluß prüfen, sowie die Mittheilung, welche sie davon ihrem Freunde macht. Man erwäge sorgfältig die obwaltenden Verhältnisse, und man wird sehen, wie ein redliches Herz, im Zweifel an sich selbst, sich nöthigenfalls jedes der Pflicht widerstreitende Interesse aus dem Wege zu räumen, sucht. Julie macht hier, trotz der Liebe, deren sie nicht ledig geworden, ihre Sinnlichkeit zum Bundesgenossen ihrer Tugend, zwingt sich gewissermaßen, Wolmar als ihren alleinigen Gatten zu lieben, als den einzigen Mann, dem sie zeitlebens beiwohnen wird; sie verwandelt das geheime Interesse, welches sie an seinem Verluste haben könnte, in ein Interesse an seiner Erhaltung. Entweder ich verstehe mich nicht auf das menschliche Herz, oder es ist gerade dieser vielgetadelte Entschluß, welcher für Juliens ganzes Leben der Tugend den Sieg sichert, und ihr die aufrichtige und unwandelbare Anhänglichkeit, die sie ihrem Manne bis an ihr Ende bewahrt.]
.
Was ich gesagt habe, um Ihre Zweifel zu heben, kann auch dazu dienen, Ihre Einwürfe gegen das Bekenntniß, welches ich meinem Manne schuldig zu sein glaube, zum Theil zu beseitigen. Er ist zu verständig, um einen demüthigenden Schritt, den mir nur die Reue abgewinnen kann, mich büßen zu lassen, und ich bin ebensowenig fähig, jene Frauenlist, von der Sie sagten, anzuwenden, als er, sie mir zuzutrauen. Der Grund, den Sie anführen, weshalb das Geständniß
Weitere Kostenlose Bücher