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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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sich Milord Eduard zu sein einbildet, und ich finde, daß er hierdurch uns Gefühlsmenschen, die wir uns so viel dünken, weit überlegen ist; denn uns trügt das Herz auf tausenderlei Weise und verfährt nach Bestimmungsgründen, die doch immer verdächtig sind: aber die Vernunft hat nie etwas Anderes vor Augen als das Rechte; sie bietet einen sichern, klaren, bequemen Maßstab für die Führung des Lebens, und nie verirrt sie sich, wenn sie nicht zu müßigen Spekulationen gebraucht wird, die gar nicht ihrem Wesen angemessen sind.
    Das, woran Herr von Wolmar am meisten Gefallen findet, ist Menschenbeobachtung. Er spricht sich gern über Charaktere und Handlungen aus. Er urtheill mit tiefer Einsicht und vollkommener Unparteilichkeit. Wenn ein Feind ihm Böses thäte. würde er dessen Beweggründe und die Mittel, deren sich derselbe bedient hätte, mit einer solchen Ruhe untersuchen, als ob die Sache ihn nicht selbst anginge.
    Ich weiß nicht, wie er von Ihnen gehört haben mag, aber er hat Ihrer gegen mich mehrmals mit vieler Achtung erwähnt, und ich weiß, daß er keiner Verstellung fähig ist. Ich habe manchmal zu bemerken geglaubt, daß er mich bei diesen Gesprächen beobachtete, aber es ist sehr wahrscheinlich, daß diese vermeintliche Bemerkung nichts als der geheime Vorwurf eines unruhigen Gewissens ist. Wie dem sei, ich habe dabei meine Pflicht gethan; weder Furcht noch Scham haben mir eine unbillige Zurückhaltung aufnöthigen können, und ich habe Ihnen bei ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen, wie ich sie ihm bei Ihnen widerfahren lasse.
    Ich vergaß, Ihnen von unserm Einkommen und der Verwaltung desselben zu sagen. Die Trümmer seiner Habe, nebst der meines Vaters, der sich nur eine Pension vorbehalten hat, sichern ihm zusammen ein mäßiges aber anständiges Vermögen, von dem er einen edlen und klugen Gebrauch macht, indem er bei sich zu Hause nicht das eitele und lästige Gedränge des Luxus, sondern Gemächlichkeit und Fülle in den wahren Annehmlichkeiten des Lebens
[Nichts findet sich häufiger beisammen als Prachtaufwand und Filzigkeit. Man entzieht der Natur, dem wahren Vergnügen, selbst dem Bedürfniß, was man der Meinung opfert. Mancher schmückt sein Palais auf Unkosten seiner Küche; Mancher hält mehr auf schönes Tafelzeug als auf eine gute Tafel; Mancher giebt ein Prunkessen und stirbt das ganze Jahr hindurch Hungers. Wenn ich ein mit Silber besetztes Büffet sehe, rechne ich stets auf Wein, der mich vergiftet. Wie oft auf Landsitzen läßt man sich durch die Morgenkühle, durch den Anblick eines schönen Gartens locken: man steht früh auf, geht spazieren, macht sich hungrig, will endlich frühstücken; ja, da ist der Offficiant nicht da, oder nichts im Hanse, oder nichts herausgegeben, oder man muß warten. Bisweilen kommt man euch zuvor, bietet euch das Schönste und Beste an, nur müßt ihr nichts annehmen. Man muß bis drei Uhr hungern, oder Tulpen zum Frühstück genießen. Ich erinnere mich, einmal in einem sehr schönen Park gewesen zu sein, dessen Besitzerin, sagte man, sehr den Kaffee liebte, ihn aber niemals trank, weil die Tasse auf vier Sous zu stehen käme; jedoch gab sie ihrem Gärtner mit Freuden tausend Thaler. Ich glaube, ich würde lieber weniger gut geschorene Hecken halten, und öfter Kaffee trinken.]
, und seinen dürftigen Nachbarn
    das Nothdürftige schafft. Die Ordnung, welche er in sein Hauswesen gebracht hat, ist das Bild deren, die in seiner Seele herrscht und scheint in einer kleinen Wirthschaft diejenige nachzuahmen, welche in der Regierung der Welt eingerichtet ist. Man bemerkt darin nicht jene unverrückbare Regelmäßigkeit, welche mehr Zwang als Nutzen stiftet, und nur für Den erträglich ist, der sie auferlegt, noch auch jenes schlechtverstandene Hin und Her, in welchem zu viel erreicht werden soll, und deshalb nichts erreicht wird. Man erkennt vielmehr überall die Hand des Herrn und fühlt sie doch nie; immer hat er die erste Veranstaltung so gut getroffen, daß dann Alles von selbst geht, und daß man der Ordnung und der Freiheit zugleich genießt.
    Dies, mein werther Freund, ist in wenigen, aber treuen Zügen der Charakter des Herrn von Wolmar, soweit ich ihn, seit ich mit ihm lebe, kennenlernen konnte. So erschien er mir den ersten Tag, so erscheint er mir noch heute ohne die geringste Abweichung; was mich denn hoffen läßt, daß ich recht gesehen habe, und daß mir nichts weiter zu entdecken bleibt; denn ich denke mir, daß er sich nicht anders

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