Julie oder Die neue Heloise
nicht nöthig sei, ist sicherlich eine Sophisterei, denn obgleich man zu nichts verbunden ist gegen einen Guten, den man noch nicht hat, erlangt man doch dadurch nicht die Berechtigung, sich ihm für etwas Anderes zu geben, als man ist. Ich habe das gefühlt, auch schon vormeiner Verheiratung, und wenn das Gelübde, das mir mein Vater abgedrungen hat, mich verhinderte, in dieser Hinsicht meine Pflicht zu erfüllen, so bin ich deshalb um so strafbarer, weil es ein Verbrechen ist, ein unrechtes Gelübde zu thun, und ein zweites, es zu halten. Aber ich haue ja einen andern Grund, den sich mein Her< nicht zu gestehen wagte, und der mich noch weit strafbarer machte. Dem Himmel sei Dank, er besteht nicht mehr.
Ein richtigeres und gewichtigeres Bedenken ist die Gefahr, unnütz die Ruhe eines braven Mannes zu stören, der in der Achtung, die er für seine Frau hegt, sein Glück findet. Es ist gewiß, daß es nicht mehr von ihm abhängt, das Band zu zerreißen, das uns vereint, noch von wir, eine Vergangenheit herbeizuschaffen, die desselben würdiger wäre. So laufe ich Gefahr, durch ein unbedachtsames Geständniß ihm ganz vergeblich Kummer zu bereiten, ohne meinerseits durch meine Aufrichtigkeit einen andern Vortheil zu erlangen. als daß ich meinem Herzen die Last eines bösen Geheimnisses, das mich grausam drückt, abwälze. Ich werde ruhiger sein, fühle ich wohl, nachdem ich es ihm entdeckt habe; aber er würde vielleicht weniger ruhiger sein, und es hieße mein Unrecht schlecht verbessern, wenn ich meine Ruhe der seinigen vorzöge.
Was soll ich denn nun in solcher Ungewißheit thun? Einstweilen, bis mich der Himmel besser aufklärt über das, was in dieser Begebung meine Pflicht ist, werde ich Ihrem freundschaftlichen Rathe folgen; ich werde schweigen, meinem Gatten von meinen Fehltritten nichts sagen, und sie durch ein Betragen auszulöschen suchen, das mich würdig mache, einst seine Verzeihung zu erlangen.
Um eine so nothwendige Reform zu beginnen, lassen Sie es sich gefallen, mein Freund, daß wir hinfort jeden Verkehr mit einander abbrechen. Wenn Herr von Wolmar mein Bekenntniß gehört hätte, so würde er entscheiden, in welchem Maße wir die Gefühle der Freundschaft, die uns verbindet, nähren, und uns unschuldige Beweise davon geben dürfen; aber da ich ihn nun nicht darüber zu Rathe ziehen kann, so habe ich zu sehr zu meinem Schaden erfahren, wie die scheinbar untadelhaftesten Gefühle irreleiten können. Es ist Zeit, weise zu werden. Der Sicherheit meines Herzens ungeachtet, will ich nicht mehr Richter in meiner eigenen Sache sein, noch mich als Frau denselben Täuschungen preisgeben, die mich als Mädchen in's Verderben führten. Dieser Brief ist der letzte, den Sie von mir erhalten werden; ich bitte auch Sie inständigst, mir nicht mehr zu schreiben. Jedoch da ich nie aufhören werde, den zärtlichsten Antheil an Ihnen zu nehmen, und da dieses Gefühl so rein ist, wie der Tag, der mich bescheint, so wird es mich sehr freuen, bisweilen Nachricht von Ihnen zu erhalten und Sie zu dem Glücke gelangen zu sehen, das Sie verdienen. Sie werden ja dann und wann an Frau von Orbe schreiben können, so oft Sie uns irgend ein bemerkenswerthes Ereigniß mitzutheilen haben. Ich hoffe, daß die Rechtschaffenheit Ihrer Seele sich jederzeit in Ihren Briefen abspiegeln wird. Uebrigens ist meine Cousine tugendhaft und zu klug, um mir etwas mitzutheilen, das zu sehen sich für mich nicht schicken würde, und um nicht diese Correspondenz zu unterdrücken, wenn Sie im Stande wären, sie zu mißbrauchen.
Adieu, theurer, lieber Freund! Wenn ich glaubte, daß Glück in der Welt Sie glücklich machen könnte, würde ich sagen: trachten Sie danach; aber vielleicht haben Sie Ursache, es zu verachten, bei so vielen Schätzen, die es Ihnen entbehrlich machen. Ich will lieber sagen: trachten Sie nach Glückseligkeit, sie ist das Glück des Weisen. Wir haben stets gefühlt, daß es ohne Tugend keines gebe; aber geben Sie Acht, daß nicht der Name Tugend zu einer bloßen Abstraction werde, von schönem Scheine, aber ohne Inhalt, zu einem Paradewort, das mehr dazu dient, Andere zu blenden, als uns selbst zufrieden zu stellen. Ich zittere, wenn ich daran denke, daß Personen, die mit Ehebruch im Grunde des Herzens umgingen, von Tugend zu reden wagten. Wissen Sie wohl, was wir mit diesem so hoch zu haltenden und so entweihten Namen bezeichneten, als wir in einem sträflichen Umgange begriffen waren? Jene rasende Liebe, in der wir
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