Julie oder Die neue Heloise
Politik scheint mir etwas Großartiges zu haben, und ich kann nicht genug bewundern, wie Herr und Frau von Wolmar das nichtswürdige Geschäft des Anklägers in ein Eifer, Rechtschaffenheit und Muth erforderndes, fast ebenso edles oder doch ebenso löbliches Amt, als es bei den Römern war, zu verwandeln gewußt haben.
Man hat damit angefangen, daß man jene sündliche und schändliche Moral einer wechselseitigen Duldsamkeit auf Kosten des Herrn, die schlechte Diener nicht verfehlen, den guten unter dem Schein einer menschenfreundlichen Maxime zu predigen, mit klaren, einfachen Worten und durch handgreifliches Beispiel ausrottete oder im Keime erstickte. Man hat ihnen zur Einsicht gebracht, daß die Vorschrift, des Nächsten Fehler zu bedecken, sich nur auf solche bezieht, durch welche Niemanden Schaden erwächst, daß man eine Ungerechtigkeit, durch welche ein dritter verletzt wird, selber begeht, wenn man sie begehen sieht und schweigt, und daß gemäß jener Erfahrung, daß nur das Bewußtsein unserer eigenen Fehler uns geneigt mache, Anderen die ihrigen zu verzeihen, Niemand es über sich vermag, Schurkereien zu dulden, wenn er nicht selbst ein Schurke ist. Nach diesen Principien, die im Allgemeinen zwischen Menschen und Menschen wahr sind, und in dem engeren Verhältnis, von Diener zum Herrn noch strengere Geltung haben, hält man es hier für ausgemacht, daß derjenige, welcher ein Unrecht gegen seine Herrschaft begehen sieht und es nicht anzeigt, noch strafbarer ist, als der Thäter selbst; denn dieser läßt sich bei seiner Handlung durch den Vortheil, welchen er im Auge hat, verlocken, während bei kaltem Blute und ohne eigennützigen Antrieb der Andere nichts hat, was ihn bewöge stillzuschweigen, als Fühllosigkeit für Recht und Unrecht, Gleichgültigkeit gegen das Wohl des Hauses, dem er dient, und ein geheimes Verlangen das Beispiel nachzuahmen, das er ungerügt läßt.Wenn demnach das Vergehen bedeutend ist, so hat Der, welcher es sich zu Schulden kommen ließ, manchmal noch Verzeihung zu hoffen, der Zeuge aber, welcher es verschwiegen hat, wird unfehlbar verabschiedet, als einer, der zum Bösen Hang hat.
Dafür duldet man denn auch keine Anklage, welche den Verdacht erregen könnte, daß sie ungerecht und verläumderisch sei, d. h. man nimmt keine in Abwesenheit des Angeschuldigten an. Wenn sich einer mit einer Aussage gegen einen seiner Kameraden einstellt, oder eine persönliche Beschwerde über ihn hat, so fragt man ihn, ob er hinlänglich unterrichtet ist, d. h. ob er sich mit Dem, gegen welchen er Beschwerde führt, über die Sache ausgesprochen hat. Wenn er Nein sagt, so fragt man ihn weiter, wie er über eine Handlung urtheilen könne, deren Beweggründe er nicht hinlänglich kennt. Diese Handlung, sagt man ihm, hängt vielleicht mit irgend einer anderen zusammen, die dir unbekannt ist: es ist vielleicht irgend ein besonderer Umstand dabei, den du nicht weißt, und der doch zu ihrer Rechtfertigung oder Entschuldigung dient. Wie kannst du dir getrauen, das Verfahren eines Menschen zu verdammen, ehe du die Gründe, welche ihn dabei geleitet haben, genau kennst? Ein Wort der Verständigung hätte ihn vielleicht in deinen Augen gerechtfertigt. Warum setzest du dich der Gefahr aus, sein Benehmen ungerechter Weise zu tadeln, und mich der Gefahr, an deiner Ungerechtigkeit Theil zu nehmen? Wenn er versichert, sich bereits mit dem Beschuldigten ausgesprochen zu haben, so entgegnet man ihm: Warum kommst du ohne ihn, als ob du Furcht hättest, daß er deine Behauptungen Lügen strafen werde? Was berechtigt dich, mir gegenüber eine Vorsicht zu verabsäumen, die du für dich allein nehmen zu müssen glaubtest? Ist es recht, zu verlangen, daß ich auf deinen Bericht hin, über eine Handlung urtheile, über welche du auf das bloße Zeugniß deiner Augen nicht hast urtheilen wollen? Und würdest du nicht für einen parteiischen Ausspruch verantwortlich sein, den ich thun könnte, wenn ich mich blos mit deiner Aussage begnügte? Sodann macht man ihm den Vorschlag, Den kommen zu lassen, den er anklagt; willigt er ein, so ist die Sache bald in Ordnung gebracht; versteht er sich nicht dazu, so schickt man ihn mit einem strengen Verweise fort; aber man bewahrt ihm das Geheimniß und beobachtet beide Leute so sorgfältig, daß man immer bald erfährt, wer von beiden Unrecht hatte.
Diese Regel steht so fest und ist so bekannt, daß man nie einen Bedienten dieses Hauses von einem seiner Kameraden in dessen
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