Julie oder Die neue Heloise
halten, und wenn er den Eifer seiner Bedienten nur auf Kosten ihres gegenseitigen Wohlwollens erkaufen könnte!
Wer nur dieses Haus hier gesehen hätte, würde sich's gar nicht einfallen lassen, daß eine solche Schwierigkeit vorhanden sei, so sehr scheint die Eintracht aller Mitglieder desselben aus der Anhänglichkeit, aus der Liebe zu seinen Häuptern, von selbst zu folgen. Hier findet man das sichtliche Beispiel, daß es nicht möglich ist, den Herrn aufrichtig zu lieben, ohne Alles zu lieben, was ihm angehört, eine Wahrheit, welche der christlichen Liebe zur Grundlage dient. Ist es nicht eine ganz natürliche Sache, daß die Kinder desselben Vaters sich unter einander als Brüder behandeln? In der Kirche wird uns dies alle Tage gesagt, ohne daß man es uns fühlen ließe. Die Bewohner dieses Hauses fühlen es, ohne daß es ihnen gesagt würde.
Die Geneigtheit Aller zu einem verträglichen Leben hat ihre erste Wurzel in der Vorsicht, die schon bei ihrer Wahl angewendet wird. Herr von Wolmar sieht bei der Annahme seiner Leute nicht blos darauf, ob sie fürseine Frau und für ihn passen, sondern auch, ob sie unter sich für einander passen. Und wenn man eine deutlich ausgesprochene Abneigung zwischen zwei übrigens guten Dienern fände, so würde dieshinreichend sein, um einen von beiden augenblicklich zu verabschieden; denn, sagt Julie, ein so wenig zahlreiches Haus, ein Haus, das sie nie wieder verlassen, und in welchem sie beständig sich einander vor Augen haben, muß ihnen allen auf gleiche Weise zusagen und würde ihnen zur Hölle werden, wenn es nicht ein Haus des Friedens wäre. Sie müssen es wie ihr Vaterhaus ansehen, wo Alle zusammen nur Eine Familie ausmachen. Ein Einziger, der den Uebrigen zuwider wäre, könnte es ihnen ganz verleiden, und da sie diesen unangenehmen Gegenstand immer vor sich haben müßten, würden sie weder für sich noch für uns hier taugen.
Nachdem man sie so viel als möglich so zusammengestellt hat, wie sie für einander passen, kettet man sie gleichsam ohne Wissen und Willen durch die Dienste an einander, welche man sie gewissermaßen zwingt, sich gegenseitig zu erzeigen. und macht, daß Jeder fühlen muß, wie wichtig es für ihn sei, von allen Kameraden geliebt zu werden. Keiner, der um eine Gunst für sich bittet, wird so gut aufgenommen, als wenn er es für einen Andern thut; daher sucht Jeder, der eine zu erlangen wünscht, sich die Fürsprache eines Anderen zu verschaffen, und dies ist um so leichter, da man jedes Mal, ob nun die erbetene Gunst zugestanden oder abgeschlagen werde, demjenigen, der für den Anderen gesprochen, ein Verdienst daraus macht, denjenigen dagegen, die immer nur auf sich bedacht sind, nichts gewährt. Warum, sagt man diesen, sollte ich dir bewilligen, was für dich erbeten wird, der du nie für einen Anderen gebeten hast? Wäre es billig, daß du mehr Glück habest, als deine Kameraden, die gefälliger sind als du? Man thut noch mehr, man bringt sie dahin, daß sie einander im Stillen dienen, ohne Aufsehen, ohne sich damit zu zeigen; dies ist um so weniger schwer zu erlangen, da sie sehr gut wissen, daß der Herr, wenn er diese Bescheidenheit wahrnimmt, sie deshalb nur desto mehr schätzt; so gewinnt der Eigennutz dabei und die Eigenliede verliert nichts. Sie sind von der Bereitwilligkeit Aller in dieser Hinsicht so überzeugt, und es herrscht unter ihnen ein solches Vertrauen auf einander, daß, wenn einer um etwas zu bitten hat, er es nur gesprächsweise bei Tischt erwähnt: dies reicht oft hin, daß die Sache für ihn erbeten werde und daß er sie erlange, und da er nicht weiß, wem er dafür zu danken hat, so ist er Allen verpflichtet.
Durch dieses Mittel und andere ähnliche wird erreicht, daß unter den Leuten eine Liebe zu einander herrscht, welche aus der zu ihrem Herrn entspringt und dieser untergeordnet ist. Weit entfernt daher, sich zu seinem Nachtheile zu verbünden, sind sie Alle nur einig im Wetteifer, ihm gut zu dienen. Wie wichtig es für sie sei, sich unter einander zu lieben, ist es doch noch wichtiger für sie, ihm zu gefallen; der Eifer in seinem Dienste trägt noch über ihr gegenseitiges Wohlwollen den Sieg davon, und indem sie Alle in Verlusten, welche ihn in den Mitteln beschränken würden, einen guten Diener zu belohnen, ihren eigenen Schaden erblicken müssen, so könnten sie es unmöglich stillschweigend mit ansehen, wenn einer von ihnen ihn beeinträchtigen wollte. Dieser Theil der in diesem Hause eingeführten
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