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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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sein muß, der im Stande ist, sechs Jahre ein solches Geheimniß seiner Frau zu verschweigen; aber dieses Geheimniß ist in seinen Augen nichts, und er denkt zu wenig daran, als daß es eine große Anstrengung sein könnte, nicht davon zu sprechen.
    Ich will euch mit den Ereignissen meines Lebens nicht aufhalten, sagte er zu uns, es kann euch ja nicht so viel daran gelegen sein, meine Abenteuer als meinen Charakter zu kennen. Jene sind einfach wie dieser, und wenn ihr gründlich wisset, wie ich bin, so werdet ihr euch leicht denken können, was ich gethan haben mag. Ich habe von Natur eine ruhige Seele und ein kaltes Herz. Ich gehöre zu jenen Menschen, von denen man etwas recht Nachteiliges zu sagen glaubt, wenn man sagt, daß sie nichts fühlen, d. h. daß sie keine Leidenschaft haben, welche sie abhält, dem wahren Leitstern des Menschen zu folgen. Da ich für Freude und Schmerz wenig empfindlich bin, so empfinde ich auch nur sehr schwach jene Regungen von Theilnahme und Menschlichkeit, durch welche wir die Affectionen Anderer uns zu eigen machen. Wenn es mich schmerzt, brave Leute leiden zu sehen, so hat das Mitleid keinen Antheil daran; denn ich habe keines, wenn ich schlechte Menschen leiden sehe. Die einzige mich beseelende Kraft ist meine natürliche Liebe zur Ordnungsmäßigkeit, und ein wohlberechnetes Ineinandergreifen der Wechselfälle des Glückes und der Handlungen der Menschen giebt mir ganz dieselbe Befriedigung, wie eine schöne Symmetrie in einem Gemälde, oder wie ein gut disponirtes Theaterstück. Wenn ich eine vorwiegende Leidenschaft habe, so ist es die der Beobachtung. Ich liebe es, in den Herzen der Menschen zu lesen; da das meinige mir wenig Täuschungen bereitet, da ich kaltblütig und ohne Eigennutz beobachte, und eine lange Erfahrung mir Scharfblick gegeben hat, so Pflege ich mich in meinen Urtheilen nicht zu irren. Dies ist in der That auch der ganze Lohn, den meine Eigenliebe in meinen unausgesetzten Studien findet; denn ich liebe es nicht, eine Rolle zu spielen, sondern nur die Andern spielen zu sehen. Die Gesellschaft ist mir angenehm, um sie zu betrachten, nicht um selbst einen Theil von ihr auszumachen. Wenn ich die Natur meines Wesens ändern und ein lebendiges Reis werden könnte, würde ich diesen Tausch gern eingehen. Meine Gleichgültigkeit für die Menschen macht mich also nicht unabhängig von ihnen; ohne daß mir daran läge, von ihnen gesehen zu werden. habe ich das Bedürfniß, sie zu sehen, und ohne mir werth zu sein, sind sie mir nothwendig.
    Die beiden Stände der Gesellschaft, welche ich zuerst zu beobachten Gelegenheit hatte, waren die Höflinge und die Lakaien, zwei Menschenklassen, die mehr dem Scheine als der Wirklichkeit nach von einander verschieden, und so wenig eines Studiums werth, so leicht zu erkennen sind, daß ich sie beim ersten Blick satt hatte. Indem ich den Hof verließ, wo Alles so bald gesehen ist, entzog ich mich, ohne es zu wissen, der Gefahr, die mir daselbst drohte, und der ich nicht entgangen sein würde. Ich nahm einen andern Namen an. Um einmal den Militärstand kennen zu lernen, nahm ich Dienste bei einem fremden Fürsten. Hier hatte ich das Glück, Ihrem Vater nützlich zu sein, der seinen Freund getödtet hatte, und aus Verzweiflung hierüber tollkühn und ohne alleSchuldigkeit sein Leben aussetzte. Das tieffühlende und erkenntliche Herz dieses braven Offiziers fing nun an, mir eine bessere Meinung von der Menschheit beizubringen. Er schloß sich mir mit einer solchen Freundschaft an, daß ich ihm die meinige nicht versagen konnte, und wir unterhielten seitdem unausgesetzt eine Verbindung, die von Tage zu Tage enger wurde. Ich lernte in meiner neuen Stellung, daß das Interesse nicht, wie ich geglaubt hatte, die einzige Triebfeder der menschlichen Handlungen ist, und daß es unter der Masse von Vorurtheilen, welche gegen die Tugend streiten, auch einige giebt, die ihr günstig sind. Ich sah ein, daß das Charakteristische des Menschen im Allgemeinen eine Eigenliebe ist, die, an sich weder gut noch schlecht, das eine oder das andere nur durch die Umstände wird, welche sie bedingen, und welche selbst von den Gewohnheiten, von den Gesetzen, von Rang und Stand, Stellung und Vermögen und der gesammten Einrichtung unseres gesellschaftlichen Lebens abhängen. Ich überließ mich also meinem Hange, und die eitlen Standesvorurtheile verachtend, warf ich mich nach und nach in die verschiedenen Berufsweisen, welche mir behülflich sein konnten, alle

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