Julie oder Die neue Heloise
glücklichen Gatten, und der sein Glück so sehr verdient. Ich glaubte sein scharfes kluges Auge bis auf den Grund meines Herzens dringen, und mich abermals schamroth machen zu sehen; ich glaubte, aus seinem Munde nur zu verdiente Vorwürfse und zu wenig beachtete Lehren hervorgehen zu hören. Ich sah in seinem Gefolge jene Fanchon Regard, das lebendige Gedächtniß eines Sieges der Tugend und der Menschlichkeit über die glühendste Liebe. Ach, welches strafbare Gefühl hätte sich durch dieses undurchdringliche Geleite hindurch bis zu ihr Bahn brechen können? Mit welchem Unwillen würde ich die schändlichen Regungen einer verbrecherischen und nicht genug vertilgten Leidenschaft erstickt haben! Wie würde ich mich verachtet haben, hätte ich mit einem einzigen Seufzer ein so entzückendes Bild der Unschuld und der Sitte besudelt! Ich ging in Gedanken die Worte wieder durch, die sie mir beim Hinausgehen gesagt hatte; dann, mit ihr in eine Zukunft blickend, welche sie sich so reizend ausmalte, sah ich diese zärtliche Mutter den Schweiß von der Stirne ihrer Kinder trocknen, ihre glühenden Backen küssen, sah dieses zum Lieben geschaffene Herz dem süßesten Gefühle der Natur hingegeben. Alles trug dazu bei, selbst der Name Elysium, meine sich verirrende Einbildungskraft auf den rechten Weg zurückzulenken, und in meine Seele eine Ruhe zu ergießen, welche wohl dem Sturm der verführerischsten Leidenschaften vorzuziehen ist. Dieser Name spiegelte mir gleichsam das Innere Deren ab, die ihn erfunden hatte; mit einem unruhigen Gewissen, sagte ich mir, würde man diesen Namen nimmer gewählt haben. Ich sagte mir, der Friede herrscht in ihrem Herzen wie in der Freistatt, die sie so benannt hat.
Ich hatte mir eine angenehme Träumerei versprochen; ich habe angenehmer geträumt, als ich gehofft hatte; ich habe in dem Elysium zwei Stunden verbracht, denen ich keine Zeit meines Lebens vorziehe. Indem ich sah, wie reizend und wie schnell sie mir entflohen, fand ich, daß die Seele in der Anschauung sittlicher Gedanken eine Art Wohlsein genießt, welches der Böse niemals kennen lernt, nämlich das Gefühl mit sich zufrieden zu sein. Wenn man es ohne Vorurtheil betrachtet, so weiß ich nicht, welches andere Vergnügen man diesem an die Seite stellen könnte. Ich fühle wenigstens, daß sonst Jeder, der wie ich die Einsamkeit liebt, fürchten muß, sich in ihr Qualen zu bereiten. Vielleicht können dieselben Grundsätze dazu dienen, über die falschen Meinungen, welche sich die Menschen von den Vortheilen einerseits des Lasters, andrerseits der Tugend machen, Aufschluß zu geben; denn der Genuß der Tugend ist ganz innerlich und nur Dem wahrnehmbar, der ihn in sich erfährt; aber alle Vortheile des Lasters fallen äußerlich in die Augen, und nur Der, welcher sie hat, weiß, was sie ihn kosten.
Se a ciascun l' interno affanno
Si leggesse in fronte scritto,
Qu
anti mai, che invidia fanno,
Ci farebbero pietà.
[O wenn Jedem das inn're Leiden
Auf die Stirne wär' geschrieben,
Manchem würde, den wir beneiden,
Mitleid nur von uns geschenkt.
Er hätte auch die folgenden Verse hinzufügen können, die sehr schön sind, und nicht weniger hierher Passen, nämlich:
Si vedria che i lor nemici
Hanno in seno, e si riduce
Nel parere a noi felici
Ogni lor felicità!
Zeigen würde sich, daß er seinen
Feind verbirgt im eigenen Busen,
Und daß sich auf Glücklichscheinen
Sein gepriesenes Glück beschränkt.]
Da es spät wurde, ohne daß ich darauf achtete, kam Herr von Wolmar zu mir, und benachrichtigte mich, daß Julie und der Thee meiner warteten. Sie, sagte ich zu meiner Entschuldigung, haben mich selbst verhindert, schon bei Ihnen zu sein; ich war so entzückt von meinem gestrigen Abend, daß ich diesen Morgen wieder hinging, um ihn noch einmal zu genießen; zum Glück habe ich keinen Schaden dadurch, und da Sie auf mich gewartet haben, so ist mein Morgen nicht verloren.
So denke ich auch, antwortete Frau von Wolmar; besser, man wartet auf einander bis zu Mittag, als daß man das Vergnügen verliert, mit einander zu frühstücken. Fremde werden Morgens nie in meinem Zimmer zugelassen, sondern frühstücken in dem ihrigen. Das Frühstück ist recht das Mahl für Freunde; die Bedienten sind davon ausgeschlossen, kein Ueberlästiger erscheint dabei; man sagt Alles, was man denkt, man enthüllt alle seine Geheimnisse, man thut keiner seiner Empfindungen Zwang an; man kann sich, ohne unvorsichtig zu sein, der Süßigkeit des
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