Julie oder Die neue Heloise
Vertrauens und des unbefangenen Umganges hingeben. Es ist fast der einzige Augenblick, wo es erlaubt ist, das zu sein, was man ist; warum dauert er nicht den ganzen Tag! Ach Julie, war ich im Begriff zu sagen, das ist ein sehr eigennütziger Wunsch! aber ich schwieg. Das Erste, was ich mit der Liebe abgelegt habe, ist das Loben. Jemanden in's Gesicht loben, wenn es nicht die Geliebte ist, was heißt das anders, als ihn der Eitelkeit zeihen? Sie wissen, Milord, ob dies ein Vorwurf ist, den man Frau von Wolmar machen kann. Nein, nein, ich verehre sie zu sehr, um sie nicht schweigend zu verehren. Sie sehen, sie hören, auf all ihr Thun achten, ist das nicht Lobeserhebung genug?
Zwölfter Brief.
Frau von Wolmar an Frau von Orbe.
Es ist geschrieben, theure Freundin, daß du zu allen Zeiten mein Schutz gegen mich selbst sein, und nachdem du mich mit so vieler Mühe aus den Schlingen meines Herzens befreit, mich auch vor denen meiner Vernunft bewahren sollst. Nach so vielen schmerzlichen Prüfungen fange ich an, mich vor Irrthümern in Acht zu nehmen, sowie vor den Leidenschaften, deren Werk sie so oft sind. Warum habe ich nicht immer dieselbe Vorsicht gebraucht! Wenn ich mich in früheren Zeiten weniger auf meinen richtigen Blick verlassen hätte, so würde ich weniger über meine Empfindungen zu erröthen gehabt haben.
Laß dich durch diesen Eingang nicht beunruhigen. Ich würde deiner Freundschaft unwürdig sein, wenn ich mir noch in den Hauptsachen Raths bei ihr erholen müßte. Meinem Herzen war stets das Verbrechen fremd, und ist, wie ich glaube, jetzt entfernter davon, als jemals. Höre mich also ruhig an, Cousine, und sei überzeugt, daß ich über Fragen, welche das sittliche Gefühl allein entscheiden kann, nie Rathes bedürfen werde. In den sechs Jahren, seit ich mit Herrn von Wolmar in der vollkommensten Einigkeit lebe, die nur zwischen zwei Gatten herrschen kann, hat er, wie du weißt, mit mir nie über seine Familie und seine Person gesprochen, und da er mir von einem Vater zugeführt war, der aus das Glück seiner Tochter ebenso eifersüchtig ist, als auf die Ehre seines Hauses, so habe ich nie viel Begierde gezeigt, mehr über ihn zu wissen, als er gelegen fand, mir zu sagen. Zufrieden, ihm nächst dem Leben Dessen, der mir das meine geschenkt hat, meine Ehre, meine Ruhe, meine Vernunft, meine Kinder und Alles, was mir in meinen eigenen Augen Werth geben kann, zu verdanken, zweifelte ich nicht, daß das, was ich von ihm nicht wüßte, das, was mir bekannt war, nicht Lügen strafen werde, und ich brauchte nicht mehr von ihm zu wissen, um ihn zu lieben, zu schätzen, zu ehren, so sehr man kann.
Heute Morgen beim Frühstück schlug er uns vor, einen Spaziergang zu machen, ehe es heiß würde; unter dem Vorwande, nicht im Schlafrock, wie er sagte, über Land zu laufen, führte er uns dann in die Boskets, und, Liebe, gerade in jenes Bosket, wo das ganze Unglück meines Lebens seinen Anfang genommen hat. Als wir uns diesem verhängnißvollen Orte näherten, fühlte ich mein Herz furchtbar klopfen, und ich würde mich geweigert haben, ihn zu betreten, wenn mich die Scham nicht abgehalten, und nicht die Erinnerung an ein Wort, welches früher im Elysium gefallen war, mir vor Auslegungen bange gemacht hätte. Ich weiß nicht, ob der Philosoph sich ruhiger fühlte, aber als ich einige Zeit nachher zufällig die Augen auf ihn richtete, fand ich ihn blaß, verändert, und ich kann dir nicht sagen, was für eine Pein mir das Alles machte.
Als wir in das Bosket eintraten, sah ich, daß mein Mann mir einen lächelnden Blick zuwarf. Er setzte sich zwischen uns nieder, und nach einem kurzen Schweigen sagte er, indem er uns beide bei der Hand ergriff: Meine Kinder, ich fange an zu sehen, daß meine Pläne nicht eitel sein werden, und daß wir alle drei in einer dauerhaften Liebe vereinigt sein können, von der ich mir ein gemeinsames Glück für uns, und für mich besonders einen Trost in der herannahenden traurigen Zeit des Alters verspreche; ich kenne euch aber beide besser, als ihr mich kennt; es ist billig, unsere Stellung gleich zu machen; und obwohl ich euch nichts besonders Anziehendes zu eröffnen habe, so will ich doch jedenfalls, da ihr kein Geheimniß mehr vor mir habet, auch keines mehr vor euch haben.
Er entdeckte uns hierauf das Geheimniß seiner Geburt, welches bis dahin nur meinem Vater bekannt gewesen war. Wenn du es erfährst, wirst du sehen, wie groß die Kalthlütigkeit und Mäßigung eines Mannes
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