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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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verzehrenee Reue ist nicht der Weg zu Gewissensbissen, und wer so viel Scham besitzt, kann nicht der Schande trotzen. Wenn je eine schwache Seele Stützen gegen ihre Schwäche hatte, so sind es solche, welche sich dir darbieten; wenn je eine starke Seele sich selbst aufrecht halten konnte, ist dann die deinige eine, die der Stützen bedarf? Sage mir doch, was für einen vernünftigen Grund du hast, dich zu fürchten! Dein ganzes Leben ist nur ein immerwährender Kampf gewesen, in welchem, selbst nach deiner Niederlage, Ehre und Pflicht nie aufhörten, Widerstand zu leisten und zuletzt den Sieg davontrugen. Ach, Julie, soll ich glauben, daß nach so vielen Qualen und Leiden, zwölf Jahre der Thränen und sechs Jahre des Ruhmes noch die Möglichkeit für dich bestehen lassen, eine Prüfung von acht Tagen zu fürchten? In kurzen Worten, sei aufrichtig gegen dich selbst; wenn Gefahr ist, so rette deine Person und erröthe über dein Herz; wenn aber nicht, so heißt es deiner Vernunft Schimpf anthun und deine Tugend schänden, wenn du dich vor Gefahren fürchtest, die sie nicht bedrohen können. Weißt du nicht, daß es entehrende Versuchungen giebt, die einer gesitteten Seele niemals nahen können, die selbst zu besiegen schimpflich ist, und gegen welche Vorsicht zu gebrauchen, weniger sich demüthigen als sich erniedrigen heißt?
    Ich mache nicht den Anspruch, meine Gründe für unwiderleglich auszugeben, sondern nur dir zu zeigen, daß welche vorhanden sind, die gegen die deinigen streiten, und dies reicht hin, um meiner Meinung eine Berechtigung zu geben. Verlasse dich nicht auf dich, die du es nicht verstehst, dir selbst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, noch auf mich, die ich in deinen Fehlern immer nur dein Herz angesehen, und die ich dich immer angebetet habe, sondern auf deinen Mann, der dich so sieht, wie du bist, und dich genau nach deinem Verdienste beurtheilt. Wie alle Gefühlsmenschen bereit, Denen nicht viel zuzutrauen, die es nicht sind, glaubte ich nicht, daß sein Scharfblick in die Geheimnisse zärtlicher Herzen einzudringen vermöchte, aber seit der Ankunft unseres Reisenden sehe ich aus dem, was er mir schreibt, daß er sehr gut in den eurigen liest, und daß nicht eine der Regungen, die in ihnen vorgehen, seiner Beobachtung entrinnt; ich finde seine Beobachtungen selbst so fein und richtig, daß ich mit meiner Ansicht fast zu dem andern Extrem übergesprungen bin, und nun glauben möchte, daß kalte Menschen, die mehr ihre Augen, als ihr Herz befragen, die Leidenschaften Anderer besser zu beurtheilen im Stande sind, als lebhafte und ungestüme oder eitle Personen, wie ich, die stets damit anfangen, sich an die Stelle Anderer zu denken, und die Sache nie anders sehen, als wie sie selbst sie fühlen. Wie dem sei, Herr v. Wolmar kennt dich wohl; er schätzt dich, er liebt dich, und sein Schicksal ist an das deinige geknüpft: was fehlt ihm also dazu, daß du ihm die gänzliche Leitung deiner Aufführung überlassest, über die du dich selbst zu täuschen fürchtest? Vielleicht will er, im Vorgefühl des herannahenden Alters, durch Proben, die geeignet sind, ihn sicher zu machen, der eifersüchtigen Unruhe vorbeugen, in welche eine junge Frau einen alten Gatten zu versetzen pflegt; vielleicht erfordert der Plan, mit dem er umgeht, daß du mit deinem Freunde traulich leben könnest, ohne deinem Gemahl Besorgnisse einzuflößen, oder selbst welche zu hegen: vielleicht will er dir nur einen Beweis von dem Vertrauen und der Achtung geben, die er in so hohem Grade für dich fühlt. Man muß sich nie dagegen sträuben, auf solche Gesinnungen einzugehen, gleich als bürde man sich dadurch eine zu schwere Last auf; ich, mit einem Worte, denke, daß du der Klugheit und der Sittsamkeit zugleich nicht besser Genüge thun kannst, als indem du dich in allen Stücken seiner Zärtlichkeit und seiner Einsicht anvertraust.
    Willst du dich, ohne Herrn v. Wolmar weh zu thun, für einen Stolz bestrafen, den du nie hattest, und einer Gefahr begegnen, die nicht mehr vorhanden ist, so wende, wenn du nun mit dem Philosophen allein bist, alle die jetzt überflüssigen Vorsichtsmaßregeln gegen ihn an, die dir ehedem so nothwendig gewesen wären; lege dir ganz die Zurückhaltung auf, als ob du mit deiner Tugend dich dennoch auf dein Herz und das seinige nicht verlassen könntest; vermeide zu liebevolle Gespräche und die zärtlichen Erinnerungen an die Vergangenheit; bleibe nicht zu lange mit ihm unter vier Augen, behalte

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