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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Zurückhaltung, die, indem sie in den Herzen der Männer zugleich Begierde und ehrfurchtsvolle Scheu weckt, so zu sagen, die Koketterie der Tugend ausmacht. Deshalb nun sind Gatten selbst nicht von der Regel ausgenommen, deshalb bewahren sich die sittsamsten Frauen gerade den meisten Einfluß auf ihre Männer, weil sie mit Hülfe dieser klugen, wohlbedachten Zurückhaltung, in der nichts von Eigensinn und Widerspänstigkeit liegt, auch im Schoße der zärtlichsten Vereinigung sie immer noch in einer gewissen Entfernung halten, und sie verhindern, je ihrer überdrüssig zu werden. Du wirst mir zugeben, daß deine Vorschrift zu allgemein ist, um nicht Ausnahmen zuzulassen, und daß, da sie sich nicht auf eine strenge Pflicht gründet, derselbe Wohlstand, welcher sie gebietet, manchmal auch von ihr entbinden kann. Die Vorsicht, welche du auf deine begangenen Fehltritte gründest, ist beleidigend für deinen gegenwärtigen Zustand; ich würde sie deinem Herzen nie verzeihen, und es wird mir schwer, sie deiner Vernunft zu verzeihen. Wie hat dich der Wall, welcher deine Person vertheidigt, nicht vor einer beschimpfenden Furcht schützen können? Wie kann meine Cousine, meine Schwester, meine Freundin, meine Julie die Schwachheit eines zu empfindsamen Mädchens mit der Untreue einer strafbaren Frau vermengen? Betrachte Alles, was dich umgiebt, du wirst Nichts finden, was nicht deine Seele erheben und tragen müßte. Dein Mann, der so hoch von dir denkt, und dessen Achtung du zu rechtfertigen hast, deine Kinder, die du zum Guten bilden willst, und die es sich einst zur Ehre schätzen werden, dich zur Mutter gehabt zu haben, dein ehrwürdiger Vater, der dir so theuer ist, der sich deines Glückes freut, und auf seine Tochter noch stolzer ist, als selbst auf seine Ahnen, deine Freundin, deren Loos von dem deinigen abhängt, der du über die Frucht einer Umkehr, zu welcher sie beigetragen, Rechenschaft schuldig bist, ihre Tochter, der du mit deinem Beispiel in den Tugenden vorleuchten mußt, welche du in ihre Seele pflanzen willst, dein Freund, der die deinigen tausendmal mehr anbetet, als deine Person, und noch mehr Achtung vor dir hat, als du Furcht vor ihm, du selbst endlich,die du in deiner Sittsamkeit den Lohn der Anstrengungen findest, welche sie dir gekostet hat, und die du die Frucht so vieler Mühe nicht wirst in einem Augenblicke verlieren wollen: wie viele Beweggründe, so geeignet deinen Muth anzufeuern, beschämen dich, daß du dir mißtrauen magst! Aber, was brauche ich, um für meine Julie einzustehen, an das zu denken, was sie ist? Es genügt mir zu wissen, was sie während der Verirrungen war, welche sie bejammert. Wenn je dein Herz der Untreue fähig gewesen wäre, so würde ich dir erlauben, sie stets zu fürchten; aber selbst in dem Augenblicke, da du meintest, sie von Weitem ins Auge fassen zu können, stelle dir den Abscheu, den dir ihre wirkliche Gegenwart erweckt haben würde, nach jenem vor, den sie dir verursachte, sobald an sie denken nicht viel anders gewesen wäre, als sie begehen.
    Ich erinnere mich unseres Erstaunens, als wir einmal hörten, daß es Länder gebe, wo die Schwachheit einer jungen Liebenden ein unverzeihliches Verbrechen ist, während der Ehebruch einer jungen Frau mit dem Namen Galanterie beschönigt wird, und wo man sich nach der Verheiratung unverholen für den Zwang entschädigt, in welchem man als Mädchen lebte. Ich weiß, welche Ansichten hierüber in der großen Welt herrschen,wo die Tugend Nichts, und Alles nur eitler Schein ist, wo das Verbrechen verschwindet, wenn es schwer zu beweisen, und der Beweis selbst gegen den Brauch, der es autorisirt, lächerlich ist; aber du, Julie, die du von reiner und treuer Liebe entbrannt, nur in den Augen der Menschen strafbar warst, und dir nichts vorzuwerfen hattest zwischen dem Himmel und dir, die du, trotz deiner Fehltritte uns Achtung auferlegtest, die du, das Verlorene ohnmächtig beklagend, uns doch noch zwangest, die Tugenden, die du nicht mehr hattest, anzubeten, die du unwillig warst, deine eigene Selbstverachtung zu ertragen, als Alles sich vereinigte, das, was du gethan, verzeihlich zu machen, getraust du dir noch, das Verbrechen zu fürchten, nachdem du deine Schwachheit so theuer bezahlt hast? zu fürchten, daß du jetzt weniger vermögen werdest, als in den Zeiten, die dir so viel Thränen gekostet? Nein, meine Liebe; weit entfernt, dich beunruhigen zu dürfen, müssen deine alten Verirrungen deinen Muth befeuern; eine so

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