Julie oder Die neue Heloise
dich ehemals in's Verderben geführt hat. Du stellst die Zeiten in Vergleichung. Was fällt dir ein? Vergleiche doch auch die Umstände, und erinnere dich, daß ich dir damals deine Zuversicht vorwarf, wie ich dir heute deine Angst vorwerfe.
Du täuschest dich, mein liebes Kind; man hat nicht so sich selbst zum Besten; wenn man sich über seinen Zustand betäuben kann, indem man nicht an ihn denkt, sieht man ihn doch gleich so, wie er ist, sobald man sich damit beschäftigen will, und man verhehlt sich seine Tugenden nicht mehr, als seine Laster. Dein sanfter Sinn, deine Frömmigkeit machen dich zur Demuth geneigt. Traue nicht dieser gefährlichen Tugend, die nur der concentrirtesten Eigenliebe Nahrung giebt, und glaube mir, daß die edle Freiheit einer geraden Seele dem Stolze der demüthigen vorzuziehen ist. Wenn Mäßigung in der Klugheit nöthig ist, so ist sie es auch bei den Vorsichtsmaßregeln, zu welchen diese räth, damit nicht eine für die Tugend schimpfliche Fürsorge die Seele erniedrige, und durch die Aufregung, in welche sie uns versetzt, eine eingebildete Gefahr zu einer wirklichen mache. Siehst du nicht, daß man sich nach der Erhebung von einem Fall fein gerade halten muß, daß, wenn man sich die Neigung nach der entgegengesetzten Seite giebt, dies das Mittel ist, abermals zu fallen? Cousine, du warst Liebhaberin, wie Heloise, und siehe, bist nun Frau wie sie; gebe Gott einen bessern Ausgang! In der That, wenn ich deine natürliche Furchtsamkeit weniger kennte, würde deine Angst im Stande sein, mich meinerseits zu erschrecken, und wenn ich so skrupulös wäre, würdest du durch deine Furcht um dich machen, daß ich für mich zitterte.
Nein, überlege dir's besser, meine liebenswürdige Freundin; du, die du eine ebenso leichte und milde, als ehrliche und reine Moral besitzest, legst du nickt eine zu schroffe und deinem Charakter fremde Härte in deine Maxime über die Absonderung der Geschlechter? Ich gebe dir zu, daß sie nicht miteinander und nicht auf ein und dieselbe Art leben müssen; aber erwäge, ob diese wichtige Regel nicht in der Praxis verschiedene Ausnahmen nöthig macht, ob man sie ohne Unterschied auf Frauen und Mädchen, auf die allgemeine Gesellschaft und auf Privatzusammenkünfte, auf Geschäfte und auf Vergnügungen anwenden darf, und ob nicht Anstand und Schicklichkeit selber, von denen sie anempfohlen wird, sie hin und wieder einschränken müssen. Du willst, daß in einem Lande, wo gute Sitten herrschen, wo man bei der Verheiratung auf das von Natur Zusammenstimmende sieht, Versammlungen stattfinden, bei welchen die jungen Leute beiderlei Geschlechts sich sehen, sich kennen lernen und sich passend zusammenfinden können; Privatzusammenkünfte untersagst du ihnen aber mit großem Rechte. Sollte nicht gerade das Gegentheil für Frauen und Familienmütter stattfinden, die kein berechtigtes Interesse haben, sich öffentlich zu zeigen, die von ihren häuslichen Geschäften im Inneren des Hauses festgehalten werden und sich keiner Sache entziehen dürfen, welche der Herrin des Hauses geziemt? Es würde mir nicht gefallen, wenn du in deine Keller gingest, um den Käufern die Weine zu kosten zu geben, oder wenn du deine Kinder verließest, um Rechnungen mit einem Bankier in Ordnung zu bringen; aber wenn ein anständiger Mann kommt, der deinen Gatten besuchen oder irgend ein Geschäft mit ihm abmachen will, wirst du dich weigern, seinen Gast in seiner Abwesenheit zu empfangen, und die Honneurs des Hauses gegen ihn zu machen, um nicht unter vier Augen mit ihm allem bleiben zu müssen? Gehe auf das Princip zurück, und alle Regeln werden sich daraus von selbst ergeben. Warum denken wir, daß die Frauen zurückgezogen und von den Männern abgesondert leben müssen? Werden wir unserem Geschlechte die Beleidigung anthun, zu glauben, daß dies aus Gründen geschehe, die von seiner Schwachheit hergenommen sind, und lediglich um der Gefahr der Versuchung zu entgehen? Nein, meine Liebe, diese unwürdige Furcht geziemt einer braven Frau, einer Familienmutter nicht, die von Gegenständen, welche eine ehrenhafte Gesinnung in ihr nähren, unablässig umgeben ist, und die den achtungswürdigsten Pflichten der Natur ihr Leben widmet. Was uns von den Männern trennt, ist die Natur selbst, die uns andere Beschäftigungen vorzeichnet, ist jene sanfte, schüchterne Bescheidenheit, die, ohne gerade an die Keuschheit denken, ihre sicherste Schutzwehr ist, jene aus sich selbst achtende, pikante
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