Julie oder Die neue Heloise
Vertrauen, mit ihrem alten Geliebten, unter keiner andern Huth als der ihrer Tugenden lassen soll, so würde ich unsinnig sein, wenn ich diesen Geliebten in mein Haus aufnähme, ehe ich mich vergewissert hätte, daß er für immer aufgehört habe, es zu sein, und wie hätte ich mich dessen vergewissern können, wenn ich eine Gattin gehabt hätte, auf die sich weniger bauen ließ?
Ich habe Sie manchmal meine Bemerkungen über Liebe belächeln sehen; jetzt habe ich zufällig Mittel in Händen, Sie zu beschämen. Ich habe eine Entdeckung gemacht, die weder Sie, noch irgend eine Frau auf der Welt, mit aller Subtilität, die man Ihrem Geschlechte beilegt, je gemacht hätte, deren Exidenz Sie jedoch auf den ersten Blick fühlen werden, und die Sie wenigstens für bewiesen achten werden, wenn es mir gelingt, Ihnen deutlich zu machen, worauf ich sie gründe. Ihnen zu sagen, daß meine jungen Leute verliebter sind als je, hieße ohne Zweifel, Ihnen kein Wunder melden. Ihnen im Gegentheil versichern, daß sie vollkommen geheilt sind, Sie wissen, was Vernunft und Tugend vermögen: es wäre auch dies nicht das größte ihrer Wunder. Aber daß diese beiden Gegensätze zu gleicher Zeit wahr sind, daß sie mehr als je für einander brennen, und daß zwischen ihnen nur noch eine ehrbare Anhänglichkeit besteht, daß sie fort und fort Liebende sind, und doch nichts anders mehr als Freunde, dies denke ich, wird Ihnen unerwarteter kommen, wird Ihnen schwerer zu begreifen sein, und ist doch nur die lautere Wahrheit.
Daher das Räthselhafte in den häufigen Widersprüchen, die Sie an ihnen bemerkt haben müssen, sowohl in ihren Reden, als in ihren Briefen. Was Sie Julien in Betreff des Porträts geschrieben haben, hat mehr als alles Uebrige dazu gedient, mir das Geheimniß aufzuklären und ich sehe, daß sie immer in gutem Glauben sind, auch indem sie sieh unaufhörlich selbst widersprechen. Wenn ich sage: sie, so meine ich vornehmlich den jungen Mann; denn was Ihre Freundin betrifft, so kann man nur vermutungsweise sprechen. Ein Schleier von Verständigkeit und Sittsamkeit faltet sich so reich um ihr Herz, daß es dem menschlichen Auge, selbst ihrem eigenen, nicht möglich ist, hindurchzudringen. Das Einzige, was mich vermuthen läßt, daß sie noch einen Rest von Mißtrauen gegen sich selbst zu überwinden habe, ist der Umstand, daß sie unablässig in sich forscht, wie sie handeln würde, wenn sie gänzlich geheilt wäre, und doch ganz genau so handelt, wie sie, wenn sie wirklich geheilt ist, nicht besser kann.
Was Ihren Freund betrifft, der, obwohl tugendhaft, sich über Gefühle, die in ihm noch zurückgeblieben sein mögen, weniger Noth macht, so bemerke ich an ihm in der That noch alle diejenigen, welche ihn in jener frühesten Jugendzeit beseelten; aber ich bemerke sie, ohne ein Recht zu haben darüber böse zu sein. Nicht in Julien von Wolmar ist er verliebt, sondern in Julien von Étange; er haßt mich nicht als den Besitzer der Person, die er liebt, sondern als den Räuber derjenigen, die er geliebt hat. Die Frau eines Andern ist nicht seine Geliebte; die Mutter zweier Kinder ist nicht mehr seine alte Schülerin. Es ist wahr, daß sie ihr sehr ähnlich sieht und ihn oft wieder an sie erinnert. Er liebt sie in der Vergangenheit: das ist das richtige Wort des Räthtels; nehmen Sie ihm die Erinnerung und er würde nicht mehr lieben.
Dies ist keine leere Spitzfindigkeit, Cousinchen; es ist eine Bemerkung, die sehr guten Grund hat, und die, auch auf andere Liebschaften ausgedehnt, vielleicht eine weit allgemeinere Anwendung finden würde, als es scheint. Ich glaube sogar, daß sie in diesem Falle aus Ihren eigenen Ideen nicht schwer zu erläutern sein würde. Sie trennten diese beiden Liebenden zu der Zeit, als ihre Leidenschaft den höchsten Gipfel ihrer Heftigkeit erreicht hatte. Wenn sie länger zusammen geblieben wären, würden sie vielleicht nach und nach kälter gegen einander geworden sein; nun aber hat ihre lebhaft aufgeregte Einbildungskraft sie einander unaufhörlich so gezeigt, wie sie im Augenblicke ihrer Trennung waren. Der junge Mann, der an seiner Geliebten die Veränderungen nicht sah, welche der Fortschritt der Zeit hervorbrachte, liebte sie so, wie er sie noch gesehen hatte und nicht so, wie sie wirklich war
[Ihr Frauen seid recht närrisch, daß ihr einem so wandelbaren und vergänglichen Gefühle, wie die Liebe ist, Beständigkeit zumuthet. Alles verändert sich in der Natur, Alles ist in beständigem
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