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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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schlafen.
    Dies, mein Freund, sind die Ereignisse eines Tages in meinem Leben, an welchem ich ohne Ausnahme die lebhaftesten Bewegungen erfahren habe. Ich hoffe, es wird die Krisis gewesen sein, die mich vollständig mir selbst wiedergiebt. Uebrigens muß ich Ihnen sagen, daß dieses Abenteuer mich mehr als alle Beweisgründe von der Freiheit des Menschen und dem Werthe der Tugend überzeugt hat. Wie Viele werden nur schwach versucht, und erliegen! Was Julie betrifft, meine Augen sahen es, und mein Herz fühlte es, sie bestand an diesem Tage den härtesten Kampf, den eine menschliche Seele bestehen kann, sie siegte jedoch. Was habe ich aber gethan, daß ich so weit hinter ihr zurückbleiben muß? O Eduard! als du, verlockt von deiner Geliebten, zugleich über deine und ihre Begierden zu siegen wußtest, warst du da ein bloßer Mensch? Ohne dich wäre ich vielleicht verloren gewesen. Hundertmal an diesem gefahrvollen Tage hat das Andenken an deine Tugend mir die meinige wiedergegeben.
     

Fünfte Abtheilung.
    Clément-Pierre Marillier (1740-1808): Saint-Preux und Familie Wolmar (V, 3).
Erster Brief.
Milord Eduard an Saint-Preux.
    [Der Brief scheint vor Empfang dem vorigen geschrieben.]
    Tritt aus der Kindheit, Freund, wach auf! Gieb nicht dein ganzes Leben dem Schlafe deiner Vernunft hin! Die Zeit fliegt, du hast keine mehr übrig, um weise zu werden. Wenn man dreißig Jahre alt ist, so muß man an sich denken; fange also an, in dich zu gehen, und sei einmal Mann, ehe du stirbst!
    Mein Lieber, Ihr Herz hat Sie lange über Ihre Einsichten getäuscht. Sie haben Philosoph sein wollen, ehe Sie die Fähigkeit dazu besaßen; Sie haben Gefühlswesen für Vernunft gehalten, und indem Sie sich damit begnügten, die Dinge nach dem Eindruck zu schätzen, den sie auf Sie machten, haben Sie stets ihren wahren Werth verkannt. Ein gerades Herz ist, gestehe ich, das erste Organ der Wahrheit; wer nichts empfunden hat, kann nichts erfahren; er rennt nur aus Irrthum in Irrthum; er erwirbt nur ein eiteles Wissen und unfruchtbare Kenntnisse, weil ihm die wahre Beziehung der Dinge zu dem Menschen, welche dessen Hauptwissenschaft ist, immer verborgen bleibt. Es heißt aber sich auf die erste Hälfte der Wissenschaft beschränken, wenn man nicht auch die Beziehungen der Dinge unter einander studirt, um diejenigen Beziehungen besser beurtheilen zu können, in welchen sie zu uns stehen. Es will nicht viel sagen, die menschlichen Leidenschaften zu kennen, wenn man nicht den Werth der Gegenstände kennt, und dieses letztere Studium läßt sich nur in der Stille der Meditation ausführen.
    Die Jugend ist für den Weisen die Zeit des Erfahrens; seine Leidenschaften dienen ihm dazu als Werkzeuge; nachdem er aber seine Seele auf die äußern Gegenstände gerichtet hat, um dieselben aufzunehmen, zieht er sie in sich zurück, um dieselben zu untersuchen, zu vergleichen, zu begreifen. Dies ist die Sache, worin Sie stärker sein sollten, als irgend Jemand. Mit Allem, was nur ein empfindsames Herz an Freuden und Leiden erfahren kann, ist das Ihrige erfüllt worden. Was nur ein Mensch sehen kann, haben Ihre Augen gesehen. In einem Zeitraume von zwölf Jahren haben Sie in sich alle Empfindungen erprobt, so viele nur ihrer über ein langes Leben vertheilt sein können, und haben, noch jung, die Erfahrung eines Greises erworben. Ihre ersten Beobachtungen bezogen sich auf einfache Menschen, fast, wie sie aus den Händen der Natur hervorgehen; als ob Ihnen diese zu Vergleichungspunkten gegeben wären. In die Hauptstadt des berühmtesten Volkes der Welt verwiesen, haben Sie sich gleichsam in das andere Extrem gestürzt; das Genie bedarf der Zwischenstufen nicht. Sie kamen dann zu der einzigen Nation von Menschen, welche noch mitten unter den verschiedenen Heerden existirt, mit denen die Erde bedeckt ist, und sahen das Gesetz, wenn auch nicht herrschen, doch wenigstens noch in Geltung; Sie lernten dort, an welchen Zeichen man dieses geheiligte Organ eines Volkswillens erkennt, und wie die Herrschaft der Vernunft die wahre Grundlage der Freiheit ist. Sie haben alle Himmelsstriche durchreist, haben alle Regionen gesehen, welche die Sonne bescheint. Ein seltneres Schauspiel, würdig von dem Weisen geschaut zu werden, der Anblick einer erhabenen reinen Seele, die über ihre Leidenschaften triumphirt und sich selbst beherrscht, ist Ihnen gegenwärtig zum Genuß geboten. Der erste Gegenstand, welcher Ihre Blicke fesselte, ist derjenige, welcher sie jetzt noch

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