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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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können. Sie wissen, welchen Zweck diese Reise hat. Nach zwölf Jahren voller Verirrung und Unruhe traue ich mir selbst nicht! um Widerstand zu leisten, war ich mir wohl genug, aber um mich zu entscheiden, bedarf ich des Freundesauges, und ich mache mir eine Freude daraus, daß Alles uns beiden gemein sei, die Erkenntlichkeit ebensowohl, als die Anhänglichkeit. Aber, daß sie sich nicht täuschen! Ehe ich Ihnen mein Vertrauen bewillige, werde ich sehen, ob Sie dessen würdig sind, und ob Sie es verdienen, wieder für mich zu thun, was ich für Sie gethan habe. Ich kenne Ihr Herz, und es befriedigt mich; aber dies ist nicht genug: Ihres Urtheils bedarf ich bei einer Entscheidung, bei welcher die Vernunft allein maßgebend sein soll, meine eigene aber mich täuschen kann. Ich fürchte die Leidenschaften nicht, wenn sie durch unverdeckte Angriffe uns warnen, auf unsrer Hut zu sein, und uns, auch bei aller Heiligkeit, die Besinnung über unsre Fehler nicht rauben, so daß man ihnen nur insoweit nachgiebt, als man ihnen nachgeben will. Ich fürchte nur die Hinterlist, mit welcher sie uns betrügen, statt uns mit offener Gewalt anzugreifen, und uns dahin bringen, daß wir, ohne es zu wissen, etwas Anderes thun, als wir wollen. Man braucht nur sich, um seine Neigungen zu bewältigen; eines Andern aber bedarf man manchmal, um auszumitteln, welchen man folgen dürfe, und dazu eben ist die Freundschaft eines verständigen Mannes gut, welcher für uns die Dinge, an deren richtiger Erkenntniß uns liegt, unter einem andern Gesichtspunkte sieht. Denken Sie also daran, sich zu prüfen, und sagen Sie sich, ob Sie, immer noch einem eiteln Schmerz um Unerreichbares hingegeben, ewig sich und Andern unnütz bleiben, oder ob Sie, die Herrschaft über sich selbst endlich wieder ergreifend, Ihre Seele einmal in Stand setzte wollen, die Ihres Freundes aufzuhellen.
    Meine Geschäfte halten mich in London nur noch vierzehn Tage fest; ungefähr eben so viel Zeit denke ich mich unterwegs bei unsrer Armee in Flandern aufzuhalten; Sie dürfen mich daher nicht vor Ende des nächsten Monats oder Anfang Oktobers erwarten. Schreiben Sie mir nicht mehr nach London, sondern zur Armee unter beiliegender Adresse. Fahren Sie in Ihren Schilderungen fort; trotz der üblen Haltung finde ich Ihre Briefe rührend und belehrend; sie geben mir Anregung, auf ein zurückgezogenes und ruhiges Leben zu denken, wie es meinen Grundsätzen und meinen Jahren angemessen ist. Beruhigen Sie mich vor allen Dingen in Betreff dessen, was Sie mir von Frau von Wolmar gesagt haben; wenn ihr Loos kein glückliches ist, wer dürfte wohl nach einem solchen streben? Nach Allem, was sie Ihnen über ihre Lage gesagt, kann ich nicht begreifen, was ihr zu ihrem Glücke fehlt
[Der pomphafte Ton in diesem Briefe gefällt mir deshalb, weil er ganz dem Charakter bei guten Eduard entspricht, der nie mehr philosophirt, als wenn er etwas Dummes macht, und nie mehr Raisonnement vorbringt, als wenn er nicht weiß, was er sagen soll.]
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Zweiter Brief.
Saint-Preux an Milord Eduard.
    Ja, Milord, mit freudiger Bewegung gebe ich Ihnen die Versicherung, daß der Auftritt in Meillerie die Krise meiner Thorheiten und meiner Leiden gewesen ist. Nach den Aufschlüssen, die mir Herr von Wolmar über den wahren Zustand meines Herzens gab, bin ich völlig ruhig geworden. Dieses allzu schwache Herz ist geheilt, so weit es geschehen konnte, und ich ziehe die Wehmuth eines eingebildeten Schmerzes der schrecklichen Lage vor, unablässig von verbrecherischen Gedanken bestürmt zu sein. Seit der Rückkunft dieses würdigen Freundes nehme ich keinen Anstand mehr, ihm einen Namen beizulegen, der mir so lieb ist, und dessen Werth Sie mich so ganz haben fühlen lassen. Es ist der geringste Titel, den ich Jedem schuldig bin, der dazu beiträgt, mich der Tugend wiederzugeben. Friede herrscht im Grunde meiner Seele, wie an dem Orte, welchen ich bewohne. Ich fange an, mich hier frei von Unruhe und zu Hause zu fühlen, und kann ich hier auch nicht den Herren machen, so finde ich es nur noch erfreulicher, mich wie ein Kinddes Hauses zu betrachten. Die Einfachheit, die Gleichmäßigkeit, welche ich hier in Allem herrschen sehe, haben einen rührenden und bewältigenden Reiz für mich. Zwischen der Vernunft in Person und der fleischgewordenen Tugend verlebe ich heitere Tage. Je mehr ich mit diesen glücklichen Gatten umgehe, desto mehr fühle ich ihre Macht, die mich allmählich ganz einnimmt, und mein Herz stimmt sich

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