Julie oder Die neue Heloise
unvermerkt nach dem ihrigen; etwa wie die Stimme unwillkürlich den Ton annimmt, welcher bei denen herrscht, unter denen man lebt.
Welche köstliche Zurückgezogenheit! welch reizender Wohnsitz! Wie erhöht die süße Gewohnheit, da zu leben, seinen Werth! Und wie schwer ist es, wenn er auch auf den ersten Blick wenig glänzend erscheint, ihn nicht zu lieben, sobald man ihn näher kennt! Die Lust, mit welcher Frau von Wolmar ihre edle Pflicht erfüllt, Alle, die ihr nahen, glücklich und gut zu machen, theilt sich Allem mit, was davon berührt wird, ihrem Mann, ihren Kindern, ihren Gästen, ihren Leuten. Lärm, laute Lustigkeit, schallendes Gelächter vernimmt man nicht an dieser Friedensstätte, aber man findet lauter fröhliche Herzen und heitere Gesichter. Wenn bisweilen Thränen vergossen werden, so sind es Thränen der Rührung und der Freude. Schwarze Sorge, Unlust, Mißmuth nahen dieser Freistätte ebenso wenig als das Laster und die Gewissensbisse, deren Frucht sie sind.
Was sie betrifft, so ist gewiß, daß mit Ausnahme des geheimen Kummers, welcher sie nagt, und dessen Ursache ich Ihnen in meinem vorigen Briefe angegeben habe
[Dieser vorige Brief ist nicht vorhanden. man wird weiterhin die Ursache erfahren.]
, Alles dazu beiträgt, sie glücklich zu machen. Indessen würden sich bei so vieler Ursache, glücklich zu sein, tausend Andre an ihrer Stelle unglücklich fühlen; dieses einförmige und zurückgezogene Leben würde ihnen unerträglich sein; das Gelärme der Kinder würde sie ungeduldig machen, und die häuslichen Geschäfte würden ihnen Ueberdruß erregen; das Landleben würde ihnen unausstehlich sein; der reife Verstand und die Hochachtung eines nicht sehr entgegenkommenden Gatten würden ihnen keine Entschädigung für seine Kälte und sein vorgerücktes Alter dünken, ja, gerade seine Gegenwart und seine Anhänglichkeit würde ihnen zur Last sein. Entweder sie würden Mittel finden, ihn von sich fern zu halten, um mehr nach ihrem Gefallen zu leben, oder sie würden sich selbst von ihm entfernen, und dieFreuden, die ihr Stand mit sich bringt, verachten; sie würden auswärts gefährlichere Freuden suchen und sich in ihrem eigenen Haute nicht eher behaglich füllen, als bis sie ihm fremd geworden wären. Es ist eine gesunde Seele nöthig, um die Reize eines zurückgezogenen Lebens zu schmecken: nur bei guten Naturen findet man, daß sie sich im Schooße ihrer Familie gefallen und sich auf den Kreis derselben gern beschränken. Wenn es ein glückliches Leben in der Welt giebt, so ist es ohne Zweifel dasjenige, welches sie so zubringen. Die Werkzeuge des Glückes sind aber nichts für Den, der sie nicht zu gebrauchen versteht, und man fühlt nur dann, worin das wahre Glück besteht, wenn man fähig ist, es zu genießen.
Wenn ich so recht eigentlich sagen sollte, wie man es in diesem Hause anfängt, um glücklich zu sein, so würde ich, wie ich glaube, gut geantwortet haben, wenn ich sagte: man versteht zu leben; nicht in dem Sinne, welchen man in Frankreich diesem Worte giebt, nämlich, daß man im Umgange mit Andern gewisse von der Mode festgestellte Manieren einhalte, sondern ich meine ein menschliches Leben, das Leben, für welches der Mensch geschaffen ist, das Leben, von welchem Sie zu sprechen pflegen, von welchem Sie mir ein Beispiel geben, welches über sich selbst hinaus Stich hält, und welches man am Todestage nicht für verloren achtet.
Julie hat einen Vater, der sich um das Wohlergehen seiner Familie kümmert; sie hat Kinder, für deren Erhaltung anständig gesorgt werden muß. Dies ist von Natur die vornehmste Sorge des geselligen Menschen, und es ist auch die erste, der sie und ihr Gemahl sich mit vereinten Kräften gewidmet haben. Beim Beginne ihrer Haushaltung haben sie den Zustand ihres Vermögens untersucht; sie haben nicht sowohl darauf gesehen, ob dasselbe ihrem Stande, als vielmehr, ob es ihren Bedürfnissen angemessen sei, und in der Ueberzeugung, daß jede achtbare Familie sich mit dem ihrigen begnügen müsse, haben sie auch von ihren Kindern nicht im voraus so schlecht gedacht, zu fürchten, daß dieselben das Erbgut, welches sie ihnen zu hinterlassen haben, einst unzureichend finden würden. Sie haben also ihren Fleiß mehr darauf gerichtet, ihre Güter zu verbessern, als sie zu vermehren; sie haben ihr Geld mehr sicher als vortheilhaft anzulegen gesucht; anstatt neue Ländereien anzukaufen, haben sie den Werth derer, welche sie besaßen, erhöht und haben nicht daran
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