Julie oder Die neue Heloise
sind so hoch, daß ihre Gipfel noch eine halbe Stunde nach dem Untergang der Sonne von ihren Strahlen erleuchtet sind, deren Röthe auf den weißen Zinken eine schöne Rosenfarbe hervorbringt, welche man weithin steht.]
. Schwarze Tannenwälder bildeten eine schwermüthig düstere Masse zu unserer Rechten. Ein großer Eichenforst befand sich zur Linken jenseit des Gießbachs. Unter unseren Füßen der gewaltige Wasserspiegel des Sees im Schooße der Alpen, der uns von den reichen Gestaden des Waadtlandes trennte, und hinter diesen die majestätischen Gipfel des Jura, das Bild bekrönend.
Mitten unter diesen großartigen und prachtvollen Gegenständen entfaltete das kleine Plateau, auf welchem wir uns befanden, die Reize eines lachenden, ländlichen Aufenthalts; einige Bächlein rannen zwischen den Felsen hervor, und in Krystalladern über das Grün hin; einige wilde Obstbäume hingen mit ihren Wipfeln auf unsere Häupter nieder; der feuchte, frische Boden war mit Kräutern und Blumen bedeckt. Diese liebliche Insel erschien, im Vergleiche mit den schauerlichen Gegenständen rings um sie her, wie das Asyl zweier Liebenden, die allein dem Umsturz der Natur entronnen.
Als wir die Stätte erreicht und ich sie einige Zeit betrachtet hatte, sagte ich zu Julie, indem ich sie mit thränenden Augen ansah: Wie, sagt Ihnen Ihr Herz hier nichts, und fühlen Sie nicht eine geheime Bewegung beim Anblicke eines Ortes, der so voll von Ihnen ist? Dann, ohne ihre Antwort abzuwarten, führte ich sie zu den Felsen, und zeigte ihr ihren Namenszug an tausend Stellen eingegraben, und manche Verse von Petrarca und Tasso, die sich auf die Situation bezogen, in welcher ich mich damals befand, als ich sie einschnitt. Als ich sie selbst nach so langer Zeit wiedersah, empfand ich, wie mächtig der unmittelbare Anblick von Gegenständen die heftigen Gefühle, von denen man bei ihnen bewegt war, wieder aufzuregen vermag. Ich sagte zu ihr mit einigem Ungestüm: O Julie, ewiger Zauber meines Herzens! hier ist die Stätte, wo einst um dich der treuste Liebhaber seufzte: dies der Aufenthalt, wo dein theures Bild sein einziges Glück war, und ihn auf das größere vorbereitete, das ihm endlich von dir selbst zu Theil ward. Man sah damals hier weder diese Früchte, noch dieses Laub; kein Teppich von Gras und Blumen deckte diese Gefilde, diese Bäche theilten sie nicht inFelder, diese Vögel ließen ihren Gesang nicht hören; nur der raubgierige Sperber, der todkrächzende Rabe, der furchtbare Alpenadler weckten mit ihrem Geschrei das Echo dieser Felsgrotten; ungeheuere Eisklumpen lagerten auf allen diesen Felsen, Schneefestons waren der einzige Schmuck dieser Bäume; Alles athmete die Strenge des Winters und den Schauer des Frostes: nur das Feuer meines Herzens machte mir diesen Ort erträglich, und ganze Tage brachte ich hier damit hin, an dich zu denken. Siehe, dies ist der Stein, auf welchem ich saß, um aus der Ferne deinen glückseligen Aufenthalt zu betrachten; auf diesem da wurde der Brief geschrieben, der dein Herz rührte; diese spitzigen Kiesel dienten mir statt Meißels, um deinen Namenszug einzugraben; hier sprang ich durch den eisigen Gießbach, um einen deiner Briefe wieder zu holen, den mir ein Wirbelwind entrissen hatte; dort las ich und küßte tausendmal den letzten, den du mir geschrieben hast; dort ist der Rand, wo ich mit düsteren, gierigen Blicken die Tiefe dieser Abgründe maß; hier endlich war es, wo ich vor meiner traurigen Abreise dich als Sterbende beweinte, und schwor, dich nicht zu überleben. O du, mit allzu großer Beständigkeit geliebtes Mädchen, du, für die ich geboren war, muß ich mich mit dir hier an demselben Orte wiederfinden und mir die Zeit zurücksehnen, die ich da mit Seufzern um deine Abwesenheit verbrachte! .... Ich wollte fortfahren; aber Julie, die, da sie mich näher an den Rand treten sah, erschrocken meine Hand ergriffen hatte, drückte sie mir, ohne ein Wort zu sagen, und blickte mich nur mit Zärtlichkeit an, indem sie einen Seufzer mit Mühe zurückhielt. Dann plötzlich die Augen abwendend, und mich beim Arme nach sich ziehend, sagte sie zu mir mit bewegter Stimme! Kommen Sie fort! die Luft dieses Ortes ist nicht gut für mich. Ich ging mit ihr, ächzend, und ohne ihr zu antworten, und schied auf immer von dieser Trauerstätte, nicht anders, als ich von Julien selbst geschieden sein würde.
Auf einigen Umwegen gingen wir langsam dem Landeplatze zu; dort angelangt, trennten wir uns. Sie wollte
Weitere Kostenlose Bücher