Julie oder Die neue Heloise
da die Hitze und die Aufregung ihrer Farbe eine höhere Glut gab, und noch mehr steigerte es ihren Reiz, daß man an ihrer gerührten Miene so deutlich sah, wie ihre Bemühungen weniger aus Furcht für ihr Leben, als aus Mitleid mit uns entsprangen. Nur in einem Augenblicke, als zwei Planken, bei einem Stoße, der uns ganz mit Wasser überschüttete, auseinanderwichen, glaubte sie, daß das Fahrzeug geborsten sei, und in dem Schrei dieser zärtlichen Mutter unterschied ich deutlich die Worte: o meine Kinder! soll ich euch nicht wiedersehen? Ich, dessen Einbildungskraft immer das wirklich vorhandene Uebel überfliegt, glaubte, obwohl ich die Gefahr vollkommen gut zu beurtheilen verstand, von Augenblick zu Augenblick das Fahrzeug verschlungen, diese so rührende Schönheit mit den Wellen ringen und von der Blässe des Todes die Rosen ihres Gesichtes überzogen zu sehen.
Endlich mit vieler Arbeit kamen wir wieder nach Meillerie hinauf, und nachdem wir länger als eine Stunde zehn Schritte vom Ufer gekämpft hatten, gelang es uns, Land zu fassen. Als wir an's Ufer gestiegen, war alle Noth und Angst vergessen; Julie nahm die Erkenntlichkeit für alle Mühe, die sich jeder gegeben hatte, auf sich, und während sie in der größten Gefahr nur an uns gedacht, schien es ihr auf dem Lande, als habe man nur sie gerettet. Wir aßen mit dem Appetit, den man bei angestrengter Arbeit gewinnt. Die Forelle wurde zubereitet. Julie, die sie außerordentlich gern ißt, nahm wenig davon, und ich merkte, daß ihr, um unseren Leuten den Verdruß über das Opfer, das sie gebracht hatten, in Vergessenheit zu bringen, dies Mal nicht gerade daran gelegen war, auch mich viel von dem Fische essen zu sehen. Milord, Sie haben es tausend Mal gesagt, stets malt sich im Kleinen wie im Großen diese liebevolle Seele.
Nach dem Essen schlug ich, da das Wasser noch immer hoch ging und das Fahrzeug ausgebessert werden mußte, einen Spaziergang vor.
Julie wandte mir den Wind, die Sonne ein, und sprach auch von meiner Müdigkeit. Ich hatte meine Absichten; daher ließ ich nichts von dem Allen gelten. Ich bin, sagte ich, von Kindheit auf an anstrengende Uebungen gewöhnt; weit entfernt meiner Gesundheit zu schaden, befestigen sie dieselbe, und meine letzte Reise hat mich noch mehr abgehärtet. Was Sonne und Wind betrifft, so haben Sie Ihren Strohhut; wir werden Gehölz und geschützte Orte erreichen; es ist nur darum zu thun, ein wenig zwischen die Felsen zu gehen, und Sie, die Sie ja die Ebene nicht lieben, werden sich dieser kleinen Anstrengung gewiß gern unterziehen. Sie that meinen Willen, und wir gingen, während unsere Leute aßen.
Sie wissen, daß ich nach meinem Walliser Exil vor 10 Jahren nach Meillerie kam, um dort die Erlaubniß zu meiner Rückkehr abzuwarten. Dort war es, wo ich so traurige und so köstliche Tage zubrachte, einzig mit ihr beschäftigt, und von dort schrieb ich ihr jenen Brief, von welchem sie so gerührt war. Ich hatte immer gewünscht, den einsamen Ort wieder zu sehen, der mir im eisigen Winter zur Freistätte gedient, und wo sich mein Herz darin gefallen hatte, sich in sich selbst mit dem Geliebtesten, was es auf der Welt hat, zu unterhalten. Die Gelegenheit, diesen so theuern Ort in einer angenehmeren Jahreszeit zu besuchen, und mit ihr, deren Bild ihn damals mit mir bewohnte, war das, was mich im Geheimen zu diesem Spaziergange antrieb. Ich machte mir eine Lust daraus, ihr alte Denkmäler einer so beständigen und so unglücklichen Leidenschaft zu zeigen.
Wir hatten eine Stunde bis hinauf zu gehen, aber auf einem gewundenen und anmuthig frischen Fußpfade, der, zwischen den Bäumen und Felsen unmerklich aufwärtssteigend, nichts Unbequemes hatte, als die Länge des Weges. Als wir uns der Stelle näherten, und ich meine alten Zeichen wieder erkannte, war mir fast ohnmächtig zu Muthe; aber ich überwand mich, verbarg meine Unruhe und wir langten an. Es war diese einsame Stätte ein gar öder und wilder Ort, aber voll von Schönheiten jener Art, die nur empfindsamen Seelen gefallen und anderen grausig scheinen. Ein Gießbach, den der schmelzende Schnee gebildet, wälzte zwanzig Schritte von uns sein trübes Wasser nieder, und führte Schlamm, Sand und Steine mit sich. Hinter uns trennte eine Kette von unzugänglichen Felsen den Vorsprung, auf welchem wir standen, von jenem Theile der Alpen, den man
Les Glacières
nennt, weil ungeheuere Eiskuppen, die unaufhörlich wachsen, sie von Anbeginn der Welt bedecken
[Diese Berge
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