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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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erlangt er ohne Umstände auf die erste Bitte, und es wird hierin mit der größten Nachsicht verfahren; aber durch Quälen erlangt er nie etwas; Thränen und Liebkosungen sind nicht minder vergeblich. Er weiß dies so gut, daß er es gar nicht mehr damit versucht; bei dem ersten Worte bescheidet er sich, und macht sich nicht mehr Kummer darüber, wenn er eine Düte Bonbons, die er gern haben möchte, einschließen sieht, als wenn er einen Vogel wegfliegen sähe, den er greifen möchte; denn er weiß, daß das Eine ebenso unmöglich ist, als das Andere. Wenn man ihm eine Sache wegnimmt, so findet er darin nichts, als daß er sie nicht hat behalten können, und wenn man ihm etwas abschlägt, nichts, als daß er es nicht erlangen kann; weit entfernt, den Tisch zu schlagen, an welchen er sich gestoßen hat, wird er nicht einmal den Menschen schlagen, der sich ihm widersetzt. In Allem, was ihm verdrießlich ist, erkennt er die Macht der Nothwendigkeit, die Folge seiner eigenen Schwäche, nie das Werk eines bösen Willens von Seiten der Anderen .... Einen Augenblick! sagte sie etwas lebhaft, da sie sah, daß ich antworten wollte; ich sehe Ihren Einwurf voraus, ich werde sogleich darauf kommen.
    Das Schreien der Kinder wird vorzüglich dadurch befördert, daß man Achtung darauf giebt, sei es, um ihnen nachzugeben, oder auch nur um sie stillzumachen. Sie bedürfen oft nichts weiter, um einen ganzen Tag zu weinen, als daß sie sehen, man möge ihr Weinen nicht. Begütige man, oder bedrohe man sie, die Mittel, zu denen man greift, um sie stillzumachen, sind fast alle schädlich und fast immer wirkungslos. Solange man sich um ihr Weinen kümmert, ist dies ein Grund für sie, damit fortzufahren, aber sie hören bald auf, wenn sie sehen, daß man nicht darauf Acht giebt, denn Keiner, Groß oder Klein, macht sich gern eine vergebliche Mühe. So ist es gerade mit meinem Aeltesten gegangen; er war anfangs ein kleiner Schreihals, der alle Welt taub machte, und Sie sind Zeuge, daß man ihn jetzt so wenig im Hause hört, als ob kein Kind darin wäre. Er weint, wenn ihm etwas weh thut; darin folgt er der Natur, der man nie Gewalt anthun soll; aber er schweigt augenblicklich, wenn der Schmerz aufhört. Ich bin nun auch sehr aufmerksam auf seine Thränen, da ich überzeugt bin, daß er keine umsonst vergießt. Ich habe also dabei den Vortheil, daß ich ganz genau weiß, wenn er Schmerzen hat, und wenn nicht, wenn er sich wohl befindet und wenn er sich unwohl fühlt: ein Vortheil, den man bei denjenigen Kindern einbüßt, welche aus Laune weinen und blos, um sich stillmachen zu lassen, Uebrigens gestehe ich, daß dies eine Sache ist, die sich bei den Ammen und Wärterinnen nur schwer durchsetzen läßt, denn da nichts unaugenehmer ist, als ein Kind ewig jammern zu hören, und da diese guten Frauen immer nur den Augenblick ansehen, so bedenken sie nicht, daß das Kind, wenn sie es heute stillmachen, morgen desto mehr weinen wird. Das Schlimmste ist, daß der Eigensinn, welchen es sich dabei angewöhnt, auch für das spätere Alter von Folgen ist. Aus derselben Ursache, welche es zu drei Jahren zu einem Schreihals macht, wird es zu zwölfen ein Trotzkopf, zu zwanzigen ein Zänker, zu dreißigen ein herrischer Mensch, und lebenslang unausstehlich.
    Jetzt bin ich bei Ihrem Einwand, fuhr sie lächelnd fort; Kinder sehen leicht in Allem, was man ihnen gewährt, den Wunsch, ihnen gefällig zu sein; dagegen müssen sie sich gewöhnen, bei Allem, was man von ihnen fordert oder was man ihnen abschlägt, Gründe vorauszusetzen, ohne darnach zu fragen. Dies ist wieder ein Vortheil, den man erlangt, wenn man gegen sie im Nothfalle sein Ansehn, nicht aber Ueberredungskünste gebraucht; denn da es ihnen manchmal nicht entgehen kann, daß man Ursache hat, es zu gebrauchen, so ist natürlich, daß sie dasselbe auch dann vermuthen, wenn sie es nicht durchschauen. Umgekehrt, wenn man erst einmal etwas ihrem Urtheile unterworfen hat, machen sie den Anspruch, über Alles zu urtheilen, werden sophistisch, schlau, unehrlich, erfinderisch in Chikanen, und suchen stets das letzte Wort zu behalten gegen Die, welche die Schwachheit haben, sich auf ihre Klügeleien einzulassen. Mit einem Worte, das einzige Mittel, sie auf den Weg der Vernunft zu bringen, ist, daß man nicht mit ihnen vernünftele, sondern sie überzeuge, daß das Vernunfthaben über ihr Alter geht, denn alsdann setzen sie die Vernunft da voraus, wo sie in der That sein sollte, wenigstens wenn man

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