Julie oder Die neue Heloise
Vortheilen, welche Sie von dieser Methode erwarten, großen Eintrag thut, nämlich daß man bei den Kindern tausend schlechte Gewohnheiten einreißen läßt, denen nicht anders als durch gute Gewohnheiten vorzubeugen ist. Sehen Sie die an, welche sich selbst überlassen bleiben: sie sind bald mit allen Fehlern angesteckt, deren Beispiel sie vor Augen haben, weil gerade diesem Beispiele bequem zu folgen ist; das Gute dagegen ahmen sie nie nach, weil die Uebung desselben den Menschen schwer fällt. Gewohnt, Alles zu erlangen, bei jeder Gelegenheit ihrem unbedachten Willen nachzuleben, werden sie trotzig, eigensinnig, unbändig .... Aber, wandte Herr von Wolmar ein, mich dünkt, daß Sie bei den unsrigen das Gegentheil bemerkt haben, und daß gerade dieser Umstand Anlaß zu dem gegenwärtigen Gespräche gegeben hat. Allerdings, sagte ich, und dies ist eben, was mich Wunder nimmt. Was hat sie gethan, um sie folgsam zu gewöhnen? Wie hat sie es angestellt? Wodurch hat sie das Joch der Zucht ersetzt? Durch ein Joch, entgegnete er unverzüglich, das sich noch weniger abschütteln läßt, durch das der Nothwendigkeit. Aber Sie werden die Gesichtspunkte, durch welche sie sich leiten läßt, besser erkennen, wenn sie Ihnen ihr Verfahren genauer auseinandersetzen wird. Nun forderte er sie auf, mir ihre Methode zu erklären, und nach einer kurzen Pause sagte sie ungefähr Folgendes:
Glücklich die Kinder, welche von guter Natur sind, mein liebenswerther Freund! Ich schreibe nicht so viel auf unsere Bemühungen als Herr von Wolmar. Ungeachtet der Sätze, die er aufstellt, zweifle ich, daß man aus einem schlechten Charakter je etwas Gutes machen und daß jedes Naturell zum Guten gelenkt werden könne: übrigens aber von der Trefflichkeit seiner Methode überzeugt, suche ich mein Verfahren bei der Behandlung der Kinder in Allem nach ihr einzurichten. Meine Hoffnung ruht erstlich darauf, daß böse Kinder nicht aus meinem Schoße hervorgegangen sein werden; sodann darauf, daß ich Kinder, die mir Gott geschenkt hat, unter der Leitung ihres Vaters zu dem Glücke erziehe, ihm einst ähnlich zu werden. Ich habe mir zu dem Ende die Regeln, die ich ihm verdanke, in meiner Weise anzueignen gesucht, indem ich ihnen eine weniger philosophische und der mütterlichen Liebe mehr angemessene Grundlage gab, nämlich den Wunsch, meine Kinder glücklich und zufrieden zu sehen. Es war der erste meines Herzens, als ich den süßen Mutternamen erwarb, und ich widme mein Leben ganz dem Berufe, ihn in Erfüllung zu bringen. Das erste Mal als ich meinen ältesten Sohn in meinen Armen hielt, dachte ich, die Kindheit ist fast ein Viertheil des längsten Menschenlebens; zu den drei andern Vierteln gelangt man selten, und es ist eine recht grausame Vorsicht, dieses erste Lebensstadium dem Menschen schwer zu machen, um das Glück der Folge sicher zu stellen, die vielleicht nie eintreten wird. Ich dachte, die Natur macht die Kinder in diesem Alter der Schwäche so vielfältig abhängig, daß es grausam wäre, ihre Knechtschaft noch durch die Herrschaft unserer Launen zu vergrößern, und ihnen eine ohnehin so beschränkte Freiheit, die sie so wenig mißbrauchen können, noch zu rauben. Ich nahm mir vor, meinem Knäbchen jeden Zwang so viel als möglich zu ersparen, ihm den ganzen Gebrauch seiner kleinen Kräfte zu lassen, und keine Regung der Natur in ihm zu unterdrücken. Ich habe hierbei schon zwei große Vortheile gewonnen, erstlich den, daß ich aus seiner jungen Seele Lüge, Eitelkeit, Zorn, Neid, mit Einem Worte, alle Laster fern hielt, die Früchte der Sklaverei sind, und die man unvermeidlich in den Kindern nähren muß, um von ihnen das zu erlangen, was man fordert; sodann den, daß ich seinem Körper die Freiheit lasse, sich durch die beständige Bewegung, welche der Naturtrieb heischt, zu stärken und zu befestigen. Gewohnt, wie die Bauerkinder, sich mit bloßem Kopfe im Freien, in der Sonne wie in der Kälte zu tummeln, sich außer Athem zu laufen, sich in Schweiß zu bringen, härtet er sich wie jene gegen die Beschwerden der Witterung ab, und wird gesünder und kräftiger, indem er zugleich ein frohes Leben hat. So ist sowohl an das Alter, als an das, was dem Menschen zustoßen kann, gedacht. Ich sagte Ihnen schon, ich habe eine Scheu vor jener mörderischen Aengstlichkeit, die aus lauter Zärtlichkeit und Sorgfalt ein Kind verweichlicht und schwächt, es durch steten Zwang martert, es von tausend Vorsichtsmaßregeln abhängig macht, kurz, es
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