Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
ihnen nicht gerechte Ursache giebt, anders zu denken. Sie wissen wohl, daß man sie nicht quälenwill, sobald sie gewiß sind, daß man sie liebt, und Kinder täuschen sich hierüber selten. Wenn ich also den meinigen etwas abschlage, so lasse ich mich aus keine Erörterungen mit ihnen ein, ich sage ihnen nicht, warum ich nicht will, sondern ich richte es so ein, daß sie es, soweit es möglich ist, selbst entdecken, manchmal erst nachher. Auf diese Weise gewöhnen sie sich, zu begreifen, daß ich ihnen nie etwas abschlage, ohne einen guten Grund zu haben, obgleich sie diesen nicht immer merken.
    Nach demselben Grundsatze leide ich es auch niemals, daß meine Kinder sich in die Unterhaltung vernünftiger Leute mischen, und sich einbilden, schon mit zu den Andern zu gehören, eine Dummheit, die gewöhnlich ist, wenn man ihr vorschnelles Geplauder duldet. Ich will, daß sie bescheiden und kurz antworten, wenn man sie fragt, niemals aber aus freien Stücken zu reden anfangen, und besonders sich es nicht beikommen lassen, ältere Personen, denen sie Achtung schuldig sind, naseweis auszufragen.
    In der That, Julie, fiel ich ihr in die Rede, das ist viel Strenge für eine so zärtliche Mutter; Pythagoras war nicht strenger gegen seine Zöglinge, als Sie gegen die Ihrigen sind. Es ist nicht blos so, daß Sie sie nicht als fertige Menschen behandeln, man möchte sagen, Sie fürchten sich, daß sie zu bald aufhören möchten, Kinder zu sein. Welches angenehmere und sicherere Mittel kann es für sie geben, sich zu unterrichten, als daß sie über die Dinge, welche sie nicht wissen, Diejenigen befragen, die erleuchteter sind als sie? Was würden zu Ihren Maximen die Pariser Damen sagen, denen ihre Kinder nie früh genug und lange genug plaudern können, und die ihren künftigen Verstand, wenn sie groß sein werden, nach den Dummheiten beurtheilen. welche sie als Kinder auskramen? Wolmar wird sagen, daß dies ganz gut sein mag in einem Lande, wo es für das Hauptverdienst gilt, gut zu schwatzen, und wo einem das Denken gern geschenkt wird, wenn man nur spricht. Aber da Sie den Grundsatz haben, Ihren Kindern das Leben so angenehm zu machen, wie verträgt sich das Wohlbehagen, das Sie ihnen verschaffen wollen, mit so vielem Zwange? Wo steckt denn bei so vieler Einschränkung die Freiheit, die Sie, wie Sie sagen, ihnen lassen?
    Wie denn? antwortete sie geschwind, heißt das ihre Freiheit einschränken, wenn man sie verhindert, sich an der unsrigen zu vergreifen, und können sie sich nicht behaglich fühlen, wenn sie nicht ein Kreis umringt, der schweigend ihre kindischen Einfälle bewundert? Wir müssendafür sorgen, daß Eitelkeit gar nicht in ihnen rege werde oder wenigstens keine Fortschritte mache; das heißt wahrhaft an ihrem Glücke arbeiten, denn die Eitelkeit des Menschen ist die Quelle seiner größten Leiden, und Niemand ist so vollkommen und wird so gefeiert, daß sie ihm nicht doch mehr Kummer als Freude verursachte
[Wenn je die Eitelkeit einen Menschen glücklich gemacht haben sollte, so ist dies zuverlässig ein Narr gewesen.]
.
    Was kann ein Kind von sich denken, wenn es einen ganzen Kreis von vernünftigen Leuten um sich versammelt sieht, welche es anhören, es liebkosen, es bewundern, mit heuchlerischer Begierde die Orakel auffangen, die aus seinem Munde hervorgehen und mit lautem Jubel bei jeder Impertinenz, die es vorbringt, einander zurufen? Ein Mann müßte sich zusammennehmen, daß ihm der Kopf nicht schwindelte, bei all diesem rauschenden Beifall; denken Sie sich also, wie dem Kinde zu Muthe sein muß. Es ist mit dem Geplauder der Kinder wie mit den Prophezeiungen im Kalender; es wäre ein Wunder, wenn unter so vielen leeren Worten nicht einmal eines glücklich paßte. Stellen Sie sich vor, was für einen Eindruck dann die Extase der Schmeichler auf eine arme Mutter, die nur schon zu sehr von ihrem eigenen Herzen hintergangen ist, und auf ein Kind machen muß, das nicht weiß, was es spricht, und sich gefeiert sieht! Denken Sie übrigens nicht, daß ich, weil ich den Fehler einsehe, ganz sicher vor ihm bin; nein, ich sehe ihn und verfalle doch in ihn; aber wenn ich über die Antworten meines Söhnchens entzückt bin, so bin ich wenigstens im Stillen entzückt; er wird nicht durch laut gespendeten Beifall schwatzhaft und eitel gemacht, und die Schmeichler haben nicht das Vergnügen, sie sich von mir erzählen zu lassen, um über meine Schwachheit zu lachen.
    Eines Tages, als wir Besuch hatten, war ich einiger

Weitere Kostenlose Bücher