Julie oder Die neue Heloise
Höflichkeit darin, den Anderen das Wort zu lassen, das, was sie sagen, höher anzuschlagen, als was man selbst sagen würde, und zu zeigen, daß man sie zu sehr achtet, um anzunehmen, daß man sie mit Jämmerlichkeiten belästigen könnte. Die gute Lebensart, das heißt diejenige, welche uns wahrhaft in der Welt beliebt macht, besteht nicht darin, daß man glänze, sondern darin, daß man die Anderen glänzen lasse, und durch eigene Bescheidenheit ihrem Stolze mehr Raum gebe. Man braucht nicht zu fürchten, daß ein Mann von Geist, der nur aus Rücksicht und Mäßigung schweigsam ist, je für einen Dummkopf gelten werde. In welchem Lande es sei, nirgend wird man einen Mann nach dem beurtheilen, was er nicht gesagt hat, und ihn deshalb verachten, weil er schwieg. Im Gegentheil, man bemerkt im Allgemeinen, daß schweigsame Leute für etwas Besonderes gelten, daß man sich in ihrer Gegenwart in Acht nimmt, und daß man ihnen viel Aufmerksamkeit schenkt, wenn sie einmal reden; der Vortheil ist daher ganz auf ihrer Seite, sie haben die Wahl, wann sie sprechen wollen, und es geht von dem, was sie sagen, nichts verloren. Es ist so schwer, auch für den verständigsten Mann, in einem langen Redeflusse stets seiner ganzen Geistesgegenwart mächtig zu sein, und so selten, daß ihm nicht etwas entfahre, was er nachher bei Muße bedaure, daß er lieber Gutes ungesagt läßt, als sich der Gefahr aussetzt, Schlechtes vorzubringen; kurz, wenn sein Schweigen nicht aus Mangel an Geist herrührt. so liegt, wenn er nicht spricht, sei er so bescheiden als möglich, die Schuld an Denen, in deren Gesellschaft er sich befindet.
Aber von sechs zu zwanzig Jahren ist ein weiter Abstand; mein Sohn wird nicht immer Kind sein, und sobald sein Verstand sich entwickeln wird, hat sein Vater die Absicht, ihn denselben üben zu lassen. Was mich betrifft, so erstreckt sich meine Aufgabe nicht bis dahin. Ich ziehe Kinder groß, und mache nicht den Anspruch, Männer bilden zu wollen. Ich hoffe, sagte sie mit einem Blick auf ihren Mann, daß würdigere Hände dieses edle Geschäft übernehmen werden. Ich bin Frau und Mutter, ich weiß mich in meinen Gränzen zu halten. Noch einmal, mein Amt ist nicht, meine Söhne zu erziehen, sondern sie so weit zu bringen. daß sie erzogen werden können.
Ich thue auch hierin nichts weiter, als daß ich Punkt für Punkt Herrn von Wolmar's System befolge, und je weiter ich schreite, desto mehr erfahre ich, wie trefflich und richtig es ist, und wie gut es zu dem meinigen stimmt. Sehen Sie meine Kinder an, und besonders den Aeltesten, sind Ihnen welche vorgekommen, die munterer und weniger lästig wären? Sie sehen sie den ganzen Tag springen, lachen, laufen, und doch werden sie Niemanden beschwerlich. Giebt es ein Vergnügen, eine Unabhängigkeit, die für ihr Alter paßt, deren sie nicht genössen, oder die sie mißbrauchten? Sie thun sich so wenig vor mir als in meiner Abwesenheit Gewalt an. Im Gegentheil, unter den Augen ihrer Mutter sind sie immer noch ein wenig dreister, und obgleich ich die Urheberin aller Strenge bin, die sie erfahren, finden sie doch mich immer am wenigsten streng, denn es wäre mir ein unerträglicher Gedanke, nicht das zu sein, was sie auf der Welt am liebsten haben.
Keine anderen Gesetze werden ihnen, wenn sie bei uns sind, aufgelegt, als die der Freiheit selbst, nämlich daß sie die Gesellschaft nicht mehr belästigen, als diese sie, daß sie nicht lauter schreien, als man spricht, und da Niemand sie nöthigt, sich mit uns zu beschäftigen, so will ich auch nicht, daß sie von uns verlangen, wir sollten uns mit ihnen beschäftigen. Wenn sie diese gerechten Gesetze übertreten, so ist ihre ganze Strafe die, daß sie augenblicklich weggeschafft werden, und die ganze Kunst, zu machen, daß dies eine Strafe für sie sei, besteht darin, daß ich mache, daß sie sich nirgend sowohl fühlen als hier. Dies abgerechnet, sind sie in nichts gebunden; man zwingt sie nie, etwas zu lernen; man quält sie nicht mit unnützen Verweisen: sie werden nie gescholten; der einzige Unterricht, den sie erhalten, ist ein praktischer, wie er sich kunstlos aus der Natur der Dinge schöpfen läßt. Jedermann im Hause ist hiernach angewiesen, und bequemt sich meinen Absichten mit einem Fleiß und einer Geschicklichkeit, die nichts zu wünschen übrig lassen, und wenn irgend ein Mißgriff zu befürchten ist, so beugt ihm meine stete Aufmerksamkeit vor, oder macht ihn leicht wieder gut.
Gestern, zum Beispiel, hatte
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