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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Lettern schrieb
[Es ist gesagt worden, daß Saint -Preux nur ein angenommener Name war; der rechte hat vielleicht auf der Adresse gestanden.]
, nicht gezittert? .... Ich verirre mich, und Sie sind schuld daran. Die Form, die Faltung, das Siegel, die Adresse, Alles an diesem Briefe, ach, erinnert mich an wie ganz andere! Das Herz und die Hand scheinen einander zu widersprechen. Ach! durften Sie dieselbe Schrift gebrauchen, um andere Gefühle niederzuschreiben?
    Sie werden vielleicht finden, daß ein so lebhaftes Andenken an Ihre alten Briefe Ihren letzten nur zu sehr rechtfertige. Sie irren sich. Ich fühle mich recht gut: ich bin nicht mehr der nämliche, oder Sie sind nicht mehr die nämliche, und der Beweis ist, daß, Ihre Reize und Ihre Güte abgerechnet, Alles, was ich an Ihnen von dem wiederfinde, was ich ehemals fand, nur ein neuer Gegenstand des Erstaunens ist. Diese Bemerkung begegnet Ihren Befürchtungen im voraus. Ich verlasse mich nicht auf meine Kräfte, wohl aber auf das Gefühl, das es mir unnöthig macht, zu ihnen meine Zuflucht zu nehmen. Voll von Allem, was ich ehren muß an Der, die ich anzubeten aufgehört habe, weiß ich, zu welcher Hochachtung sich meine ehemaligen Huldigungen erheben müssen. Von der zärtlichsten Erkenntlichkeit durchdrungen, liebe ich Sie so innig, als je. Gewiß! Aber was mich jetzt am meisten an Sie bindet, ist die Wiederkehr meiner Vernunft. Sie zeigt mir Sie so, wie Sie sind; sie dient Ihnen besser, als die Liebe könnte. Nein, wenn ich strafbar geblieben wäre, würden Sie mir nicht so theuer sein.
    Seitdem ich aufgehört habe, mich selbst zu täuschen, seit der scharfsichtige Wolmar mich über meine wahren Gefühle aufgeklärt hat, weiß ich nun besser, wie ich mit mir daran bin, und beunruhige mich weniger über meine Schwäche. Möge sie meine Einbildungskraft noch irre führen und möge mir dieses Verirren süß sein: um mich ruhig zu fühlen, genügt, daß es ihr nicht mehr möglich ist, mich zu Verletzendem gegen Sie zu verleiten, und das Wahnbild, das mich nach sich lockt, rettet mich in der That vor wirklicher Gefahr.
    O Julie, es giebt ewige Eindrücke, welche weder Zeit noch Mühe je austilgen. Die Wunde heilt, aber die Narbe bleibt, und diese Narbe ist ein unverletzliches Siegel, welches das Herz vor neuen Angriffen bewahrt. Unbeständigkeit und Liebe sind nicht mit einander verträglich: der Liebende, welcher wechselt, wechselt nicht; er fängt an, oder hört auf zu lieben. Was mich betrifft, ich habe aufgehört; aber indem ich aufhörte, der Ihrige zu sein, bin ich unter Ihrer Obhut geblieben. Ich fürchte Sie nicht mehr; aber Sie verhindern mich, eine Andere zu fürchten. Nein, Julie, nein, achtungswürdige Frau, Sie werden in mir nie etwas Anderes, als den Freund Ihrer Person und den Liebhaber Ihrer Tugenden finden; aber unsere Liebe, unsere erste und einzige Liebe wird nie aus meinem Herzen weichen. Die Blüthe meiner Jahre wird in meiner Erinnerung nicht verwelken. Hätte ich Jahrhunderte zu leben, die süße Zeit meiner Jugend kann sich weder je erneuen, noch aus meinem Gedächtnisse verschwinden. Seien wir doch immerhin nicht mehr die nämlichen, ich kann nicht vergessen, was wir gewesen sind. Aber sprechen wir von Ihrer Cousine!
    Theure Freundin, ich muß es gestehen, seit ich Ihre Reize nicht mehr zu betrachten wage, machen die ihrigen mehr Eindruck auf mich. Welche Augen können immer von Schönheit zu Schönheit schweifen, ohne je an einer hängen zu bleiben! Die meinigen haben sie vielleicht mit zu vielem Vergnügen wieder erblickt, und seit meiner Entfernung machen ihre Züge, schon zu tief in mein Herz geprägt, einen noch tieferen Eindruck auf dasselbe. Das Heiligthum ist geschlossen; aber ihr Bild ist in dem Tempel. Unvermerkt finde ich mich so für sie gestimmt, wie es der Fall gewesen wäre. wenn ich Sie nie gesehen hätte, und nur Sie allein konnten mir den Unterschied fühlbar machen zwischen dem Gefühle, das sie mir einflößt, und der Liebe. Die Sinne, von jener furchtbaren Leidenschaft befreit, schließen sich dem süßen Gefühle der Freundschaft an: wird deswegen Liebe daraus? Julie, ach, welcher Unterschied! Wo ist die schwärmerische Begeisterung, wo die abgöttische Verehrung, wo diese himmlischen Verirrungen der Vernunft, die prächtiger, erhabener, gewaltiger, hundertmal herrlicher sind, als die Vernunft selbst? Ein flüchtiges Feuer entzündet mich, ein Wahn ergreift mich einen Augenblick, verwirrt mich, und ist fort. Ich finde

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