Julie oder Die neue Heloise
zu lassen, um mir nach dem Siege den Preis zu entreißen? Fällt nicht auf Sie selbst der Tadel, wenn hier ohne Grund eine Gefahr herausgefordert wird? Warum haben Sie mich zu sich gerufen, wenn dabei so viel zu fürchten ist, oder warum wollen Sie mich verbannen, wenn ich werth bin zu bleiben? Durften Sie Ihren Mann sich umsonst so viel Mühe geben lassen? Warum bewogen Sie ihn nicht, von Versuchen abzustehen, die Sie Willens waren zu vereiteln? Warum sagten Sie nicht zu ihm: lassen Sie ihn an den Grenzen der Welt, da ich ihn doch wieder dahin schicken will? Ach, je mehr Sie um mich besorgt sind, desto mehr sollten Sie sich beeilen, mich zu sich zu rufen. Nein, nicht bei Ihnen ist Gefahr, sondern, wenn Sie abwesend sind, und nur wo Sie nicht sind, fürchte ich Sie. Wenn diese furchtbare Julie mich verfolgt, so flüchte ich mich zu Frau von Wolmar, und ich bin ruhig. Wohin werde ich fliehen, wenn diese Zuflucht mir geraubt ist? Alle Zeiten, alle Orte sind, fern von ihr, mir gefährlich; überall finde ich Clara oder Julie. In der Vergangenheit, in der Gegenwart regt mich abwechselnd die eine und die andere auf, und so beruhigt sich meine stets bestürmte Phantasie nur bei Ihrem Anblick, und nur bei Ihnen bin ich vor mir selber sicher. Wie soll ich Ihnen die Veränderung erklären, die in mir vorgeht, sobald ich Ihnen nahe? Stets noch üben Sie dieselbe Herrschaft; aber ihre Wirkung ist die entgegengesetzte. Indem Sie die stürmenden Gefühle zurückdämmen, die Sie ehemals aufregten, ist diese Herrschaft noch weit größer, weit erhabener, als ehemals; Friede, Heiterkeit sind dem Wirrwarr der Leidenschaften gefolgt; mein Herz, das sich stets nach dem Ihrigen geformt, liebte mit ihm, und nach seinem Beispiel ist es still geworden. Aber diese vorübergehende Ruhe ist nur ein Waffenstillstand; mag ich mich in Ihrer Gegenwart bis zu Ihnen erheben, ich falle, sobald ich Sie verlasse, in mich selbst zurück. Julie, in Wahrheit, ich glaube zwei Seelen in mir zu haben, von denen die gute in Ihren Händen ruht. Ach! wollen Sie mich von ihr trennen?
Aber Sie denken mit Besorgniß an Verirrungen der Sinne; Sie fürchten die Reste einer von Kummer verzehrten Jugend; Sie fürchten für die jungen Personen, welche unter Ihrer Hut stehen; Sie fürchten von mir, was der weise Wolmar nicht gefürchtet hat. Mein Gott, wie demüthigt mich all diese Furchtsamkeit! Schätzen Sie denn Ihren Freund geringer, als den letzten Ihrer Leute? Ich kann es Ihnen verzeihen, daß Sie schlecht von mir denken, nie aber, daß Sie sich selbst nichtdie Ehre geben, die Sie sich schuldig sind. Nein, nein, das Feuer, das in mir brannte, hat mich gereinigt: ich habe nichts mehr von einem gewöhnlichen Menschen an mir. Wenn ich nach dem, was ich war, einen Augenblick verächtlich sein könnte, würde ich gehen und mich an den Grenzen der Erde verbergen und mich nie weit genug von Ihnen entfernt glauben.
Was! ich sollte diese liebenswürdige Ordnung stören, die ich mit so vielem Entzücken bewunderte! Ich sollte diese Stätte des Friedens und der Unschuld besudeln! die ich mit so vieler Achtung bewohnte! Ich könnte nichtswürdig genug sein …. O, wie sollte nicht der verderbteste der Menschen gerührt sein von einem so reizenden Gemälde? Wie sollte er nicht an dieser Stätte Liebe zur Sittlichkeit gewinnen? Weit entfernt, seine schlechten Sitten dorthin zu verpflanzen, wird er sie dort ablegen …. Wer? Ich? Julie, ich? .... So spät noch? .... Unter Ihren Augen? .... Theure Freundin, öffnen Sie mir Ihr Haus ohne Furcht; es ist für mich der Tempel der Tugend; überall erblicke ich darin Ihr erhabenes Bild, und kann bei Ihnen nur ihr dienen. Ich bin kein Engel, es ist wahr; aber der Engel Wohnung wird mich behausen, ich werde ihr Beispiel nachahmen; man flieht sie nur, wenn man ihnen nicht ähnlich sein will.
Sie sehen, ich komme nur mit Mühe zu dem Hauptgegenstand Ihres Briefes, dem ersten, an den ich hätte denken sollen, dem einzigen, mit dem ich mich beschäftigen würde, wenn ich auf das Gut Anspruch machen dürfte, welches er mir ankündigt. O Julie, wohlthätige Seele! unvergleichliche Freundin! indem Sie mir die würdige Hälfte Ihres Selbst, und den kostbarsten Schatz, den es nächst Ihnen auf der Welt giebt, anbieten, thun Sie wo möglich noch mehr, als Sie je für mich thaten. Die Liebe, die blinde Liebe konnte Sie zwingen, sich selbst zu geben, aber daß Sie Ihre Freundin geben, ist ein unzweideutiger Achtungsbeweis, Von diesem Augenblicke
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