Julie oder Die neue Heloise
Theil meines Selbst haben, und dem anderen dadurch nur um so theurer sein? Mit welchem Entzücken werde ich mich dann ohne Zwang meiner ganzen Anhänglichkeit für Sie überlassen! Ja, übertragen Sie auf sie die Treue, die Sie mir geschworen haben; Ihr Herz erfülle gegen sie alle Verpflichtungen, die es gegen mich hat; es zahle ihr womöglich Alles, was Sie dem meinigen schuldig sind. O Saint-Preux, ich trete ihr diese alte Schuld ab. Erinnern Sie sich, daß sie nicht leicht zu bezahlen ist.
Dies, mein Freund, ist das Mittel, das ich ersonnen habe, um uns ohne Gefahr zu vereinigen, indem ich Ihnen in unserer Familie dieselbe Stelle gebe, die Sie in unseren Herzen einnehmen. In dem theuren und geheiligten Bande, welches uns alle umschlingen wird, werden wir untereinander nur Schwestern und Brüder sein; Sie werden nicht mehr Ihr eigener Feind und unser Feind sein; die süßesten Gefühle, zu rechtmäßigen geworden, werden nicht mehr gefährlich sein; wenn keine Ursache mehr ist, sie zu unterdrücken, wird man sie nicht mehr zu fürchten haben. Weit entfernt, so reizenden Gefühlen Widerstand zu leisten, werden wir sie uns zur Pflicht und Freude zugleich machen; wir werden uns dann alle vollkommener lieben und werden, wahrhaft vereinigt, die Reize der Liebe und der Unschuld schmecken. Wenn in dem Amte, welches Sie übernehmen, der Himmel mit dem Glücke, Vater zu sein, die Mühe belohnt, die Sie sich mit unseren Kindern geben, dann werden Sie an sich selbst den Werth dessen erfahren, was Sie für uns gethan haben. Mit den wahren Gütern der Menschheit überschüttet, werden sie lernen die süße Last eines ihren Nächsten nützlichen Lebens mit Freuden tragen, werden endlich fühlen, was die falsche Weisheit der Bösen niemals glauben will, daß ein Glück auch schon in dieser Welt den Freunden der Tugend, ihnen allein aufgespart ist.
Denken Sie über meinen Vorschlag reiflich nach, nicht um zu ermitteln, ob er Ihnen zusagt, hierüber bedarf ich keiner Antwort von Ihnen, sondern ob er für Frau von Orbe zusagend ist, und ob Sie sie glücklich machen können, wie sie Sie glücklich machen soll. Sie wissen, wie sie in jedem Stande ihres Geschlechtes ihre Pflichten erfüllt hat; nach dem, was sie geleistet hat, beurtheilen Sie, was sie ein Recht hat zu fordern. Sie liebt wie Julie, sie muß, ihr gleich, geliebt werden. Wenn Sie fühlen, daß Sie ihrer werth sein können, so reden Sie, meine Freundschaft wird das Uebrige versuchen, und verspricht sich Alles von der ihrigen; wenn ich aber zu viel von Ihnen gehofft habe, so sind Sie wenigstens ein Ehrenmann, und Sie kennen ihr Zartgefühl: Sie würden ein Glück nicht mögen, welches ihr das ihrige kosten könnte. Ihr Herz sei ihrer würdig, oder es werde ihr niemals angetragen!
Noch einmal, gehen Sie wohl mit sich zu Rathe! Ueberlegen Sie Ihre Antwort genau, ehe Sie sie geben. Wenn es sich um das Schicksal des Lebens handelt, so erlaubt die Klugheit nicht, sich leichtfertig zu entscheiden; aber jeder leichtsinnige Entschluß ist ein Verbrechen, wenn es sich um das Schicksal der Seele und um Erwählung der Tugend handelt. Nehmen Sie, um die Ihrige zu befestigen, o lieber Freund, allen Rath der Weisheit zu Hülfe. Sollte mich eine falsche Scham verhindern, Sie an das Wichtigste zu erinnern? Sie haben Religion;aber ich fürchte, daß Sie aus ihr nicht allen Vortheil ziehen, den sie für die Leitung des Lebens darbietet, und daß der philosophische Hochmuth die christliche Einfalt verschmäht. Ich habe bei Ihnen über das Gebet Ansichten gefunden, die ich nicht gutheißen kann. Ihrer Meinung nach ist dieser Akt der Demuth von keiner Frucht für uns, und Gott, nachdem er uns Alles, was zum Guten führen kann, in's Gewissen gelegt hat, überläßt uns dann uns selbst und giebt unserer Freiheit vollen Raum. Sie wissen, die Lehre des heiligen Paulus ist dies nicht, noch diejenige, welche in unserer Kirche bekannt wird. Wir sind frei, es ist wahr: aber wir sind unwissend, schwach, zum Bösen geneigt. Und woher sollte uns Erleuchtung und Kraft kommen, wenn nicht von Dem, der ihre Quelle ist? Und warum sollten wir sie erlangen, wenn wir es nicht der Mühe werth halten, darum zu bitten? Nehmen Sie sich in Acht, mein Freund, daß den erhabenen Vorstellungen, die Sie sich vom höchsten Wesen machen, der menschliche Stolz nicht niedere, nur von Menschen geltende Vorstellungen beimische; als ob die Mittel, welche unserer Schwäche aufhelfen, der göttlichen Allmacht angemessen
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