Julie oder Die neue Heloise
in ihr und mir zwei Freunde wieder, die sich zärtlich lieben, und die es sich sagen. Aber zwei Liebende, lieben die sich einer den anderen? Nein, du und ich sind Worte, die ihre Sprache nicht besitzt; sie sind nicht mehr zweie, sie sind Eins.
Bin ich denn wirklich ruhig? Wie könnte ich? Sie ist reizend: sie ist Ihre und meine Freundin; die Dankbarkeit kettet mich an sie; sie nimmt in meinen süßesten Erinnerungen eine Stelle ein. Wie viele Rechte auf eine gefühlvolle Seele! Und wie soll man von so vielen, so sehr geschuldeten Gefühlen ein zärtlicheres Gefühl fern halten? Ach! es ist verhängt, daß ich zwischen ihr und Ihnen keinen friedlichen Augenblick haben werde.
Weiber! Weiber! theure und verderbliche Wesen, welche die Natur zu unserer Qual herrlich zierte, die ihr straft, wenn man euch die Stirne bietet, die ihr verfolget, wenn man euch flieht: deren Haß und Liebe gleich schädlich sind, und die man ungestraft nicht suchen und nicht meiden kann! .... Schönheit, Reiz, Zauber, Sympathie, unbegreifliches Wesen oder Wahnbild, Abgrund von Schmerzen und von Wonnen! Schönheit, furchtbarer den Sterblichen, als das Element, aus dem dich die Sage aufsteigen ließ, wehe Dem, der sich deiner trügerischen Stille anvertraut! Du gebierst die Stürme, welche das Menschengeschlecht peinigen. O Julie! O Clara! Wie theuer verkauft ihr mir die grausame Freundschaft, deren ihr euch gegen mich noch zu rühmen wagt! .... Ich habe in Wettern gelebt und ihr, immer ihr habt sie wider mich erregt. Aber wie verschiedenartig sind die Wallungen, in die ihr mein Herz versetzt habt! Nicht ähnlicher sind die des Genfer Sees den Wogen des weiten Oceans. Jener hat nur rasche, kurze Wellen, die, sich beständig brechend, rasch einander drängend, bebend, auch manchmal versenkend, nie einen weiten Lauf machen. Aber auf dem Meere, dem scheinbar ruhigen, fühlt man sich gehoben, sanft und weit getragen, von einer langsamen, kaum sichtlichen Woge: man glaubt nicht von der Stelle zu kommen, und man gelangt an's Ende der Welt.
So ist der Unterschied der Wirkung, welche Juliens Reize und die Reize Clara's auf mich hatten. Die erste einzige Liebe, die über mein Leben entschied, und über die keine Macht siegen konnte, als sie selbst, wurde geboren, ohne daß ich es gewahrte: sie riß mich fort, ehe ich es ahnte; ich verlor mich und glaubte noch nicht, mich verirrt zu haben. Während des Sturmes schwebte ich in den Wolken oder im Abgrunde; die Stille kommt, ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Dagegen bei ihr sehe ich, fühle ich meine Verwirrung, und stelle sie mir größer vor, als sie ist; ich fühle flüchtige und unzusammenhängende Erregungen; ich walle einen Augenblick auf, und einen Augenblick nachher bin ich ruhig; die Welle quält das Schiff vergeblich, der Wind schwellt das Segel nicht; mein Herz, von ihren Reizen befriedigt, leibt ihnen nicht seinen täuschenden Zauber, ich sehe sie schöner, als ich sie mir denke, und fürchte sie mehr in der Nähe als von fern. Es ist fast gerade das Gegentheil der Wirkung, die ich von Ihnen erfahren habe, und in Clarens spürte ich beständig beide nebeneinander.
Seit meiner Abreise stellt sich mir ihr Bild allerdings manchmal herrschender dar. Unglücklicherweise ist es nur schwer, sie allein im Geiste zu erblicken. Ich sehe sie aber doch, und dies ist immer schon genug; sie hat mir nicht Liebe im Herzen zurückgelassen, aber Unruhe.
Dies ist die treue Schilderung dessen, was ich für die Eine und dessen, was ich für die Andere fühle. Der ganze Rest Ihres Geschlechtes ist für mich nichts; meine langen Leiden haben es mir aus dem Sinne gebracht,
È finito il mio tempo a mezzo gli anni.
[„Erfüllt ist meine Zeit in Lebensmitte.“]
Das Unglück hat mir statt der Kraft gedient, um die Natur zu besiegen, und über Versuchungen zu triumphiren. Man hat wenig Begierden, wenn man leidet, und von Ihnen habe ich gelernt, sie durch Widerstand zu ersticken. Eine große unglückliche Leidenschaft ist ein großes Keuschheitsmittel. Mein Herz ist, so zu sagen, das Organ aller meiner Bedürfnisse geworden; ich habe keine, wenn es ruhig ist; lasset ihr beide es in Frieden, und es wird für immer Frieden haben.
Was hätte ich bei dieser Verfassung meines Gemüthes von mir zu fürchten? Und ist es nicht eine gar grausame Vorsichtsmaßregel, durch welche Sie mir mein Glück rauben wollen, um mich nicht der Gefahr auszusetzen, es zu verlieren? Was für ein wunderlicher Einfall, michkämpfen und siegen
Weitere Kostenlose Bücher