Julie oder Die neue Heloise
sicher erkennen. Ueberlesen Sie manchmal wieder den Brief, den Ihnen Milord Eduard im vergangenen Jahre in Betreff Ihres Mannes schrieb; Sie werden darin gute Bemerkungen finden, die in mehr als einer Hinsicht auf Sie anwendbar sind. Ich tadele Ihre Frömmigkeit nicht; sie ist rührend, liebenswürdig und sanft wie Sie; sie muß selbst Ihrem Manne gefallen. Aber hüten Sie sich, daß sie Sie nicht, indem sie Sie ängstlich und voraussichtig macht, zugleich auf einem Umwege zum Quietismus führe, und indem sie Ihnen überall Gefahren vorspiegelt, es Ihnen unmöglich mache, irgend etwas zu beginnen. Theure Freundin, wissen Sie nicht, daß die Tugend ein Kriegszustand ist, und daß man, um ihr zu leben, stets einen oder den anderen Kampf mit sich selbst zu bestehen hat? Beschäftigen wir uns weniger mit den Gefahren, als mit uns selbst, um unsere Seele auf Alles, was da kommen mag, gefaßt zu halten! Gelegenheiten aufsuchen mag allerdings verdienen heißen, ihnen zu erliegen, aber ihnen mit zu großer Aengstlichkeit ausweichen, heißt oft uns großen Pflichten entziehen, und es ist nicht gut, unaufhörlich an die Versuchungen zu denken, selbst wenn man es thut, um sie zu vermeiden. Man wird mich nie gefährliche Augenblicke oder Zusammenkünfte unter vier Augen mit Frauen aufsuchen sehen; aber in welche Lage mich hinfort die Vorsehung stelle, habe ich als Bürgschaft für mich selbst die acht Monate, welche ich in Clarens zugebracht habe, und fürchte nicht mehr, daß mir Jemand den Preis entreiße, den Sie mir zu verdienen gaben. Ich werde nicht schwächer sein, als ich gewesen bin; ich werde nicht größere Kämpfe zu bestehen haben; ich habe die Bitterkeit der Gewissensbisse gefühlt, ich habe die Süßigkeit des Sieges geschmeckt. Wenn man so vergleichen kann, ist man über die Wahl nicht mehr zweifelhaft; Alles, auch meine früheren Fehltritte mit eingeschlossen, bürgt mir für die Zukunft.
Ohne mit Ihnen in neue Discussionen über die Ordnung der Welt und die Leitung der Wesen, aus denen sie besteht, eingehen zu wollen, will ich nur bemerken, daß der Mensch in Fragen, die so weit über seine Fassung gehen, über die Dinge, welche er nicht sieht, nur durch Induction von denen aus, die er sieht, urtheilen kann, und daß alle Analogie für die allgemeinen Gesetze spricht, die Sie zu verwerfen scheinen. Die Vernunft selbst, und die gesundesten Vorstellungen, welche wir uns von dem höchsten Wesen machen können, sind dieser Meinung sehr günstig; denn wenn auch seine Allmacht einer Methode nicht bedarf, um sich die Arbeit abzukürzen, ist es doch seiner Weisheit würdig, den einfachsten Mitteln und Wegen den Vorzug zu geben, damit in den Ursachen, wie in den Wirkungen, nichts unnütz und überflüssig sei. Indem er den Menschen schuf, hat er ihn mit allen Fähigkeiten ausgestattet, die zur Erfüllung dessen, was er von ihm fordert, nöthig sind, und wenn wir ihn um die Macht bitten, Gutes zu thun, so bitten wir ihn um nichts, was er uns nicht schon gegeben hätte. Er hat uns die Vernunft gegeben, um zu erkennen, was gut ist, das Gewissen, um es zu lieben
[Saint-Preux setzt das moralische Gewissen in die Empfindung, nicht in das Urtheil; was gegen die Definition der Philosophen streitet. Ich glaube jedoch, daß hierin ihr vermeintlicher College gegen sie Recht hat.]
, und die Freiheit, um es zu erwählen. In diesen hohen Gaben besteht die göttliche Gnade, und da wir dieselben alle empfangen haben, so sind wir alle für ihren Gebrauch verantwortlich.
Ich höre die Freiheit der Menschen viel bestreiten, aber ich verachte dergleichen Sophisterei. Mag mir einer doch beweisen, daß ich nicht frei bin: mein inneres Gefühl, das stärker ist, als alle seine schönen Gründe, straft ihn unaufhörlich Lügen, und wie ich mich in irgend einer Sache, welche es sei, entscheide, bin ich mir vollkommen bewußt, daß es nur von mir abhinge, den entgegengesetzten Entschluß zu fassen. Alle ihre Schulsubtilitäten sind eitel, gerade, weil sie zu viel beweisen, weil sie ebenso gut für die Wahrheit als für die Lüge sprechen, und, ob nun die Freiheit sei oder nicht, jedenfalls dazu dienen können, zu beweisen.,daß sie nicht sei. Wenn man diese Leute reden hört, so würde Gott selbst nicht frei sein, und das Wort Freiheit würde keinen Sinn haben. Sie siegen, nicht weil sie die Frage aufgelöst hätten, sondern weil sie einen Irrwisch an ihre Stelle gesetzt haben. Sie fangen damit an, daß sie voraussetzen, jedes intelligente
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