Julie oder Die neue Heloise
im Leben Ihnen nicht gehören können, und so will ich ledig sterben. Wenn ich dies erst noch zu geloben hätte, ich würde es heute geloben; denn wenn es eine Pflicht ist, sich zu verheiraten, so ist es eine noch unerläßlichere Pflicht, Niemanden unglücklich zu machen; und Alles, was mir in einem andern Bande zu fühlen übrig bliebe, wäre der ewige Schmerz um jenes, nach welchem ich zu streben gewagt hatte. Ich würde in dieses geheiligte Band die Vorstellung von dem mit hineinnehmen, was ich einst in ihm zu finden gehofft. Diese Vorstellung würde meine Qual und die Qual einer andern Unglücklichen sein. Ich würde ihr Rechenschaft abfordern von den glücklichen Tagen, die ich von Ihnen erwartet hatte. Welche Vergleichungen würde ich zu machen haben! welche Frau auf der Welt würde sie aushalten können? Ach, wie sollte ich mich um Beides zugleich zu trösten vermögen, darum, daß ich Ihnen nicht gehörte, und darum, daß ich einer Andern gehörte?
Theure Freundin, suchen Sie nicht Entschlüsse wankend zu machen, von denen die Ruhe meiner Seele abhängt; suchen Sie nicht, mich aus dem Zustande von Vernichtung zu reißen, in welchen ich versunken bin, damit ich nicht mit dem Gefühle meines Daseins das Gefühl meiner Leiden wiedergewinne, und damit nicht ein gewaltsamer Zustand alle meine Wunden wieder öffne. Seit meiner Rückkehr habe ich, ohne mich darüber zu beunruhigen, den lebhaften Antheil gefühlt, welchen ich an Ihrer Freundin nahm; denn ich wußte wohl, daß meinem Herzen sein Zustand nicht gestatten würde, je zu weit zu gehen, und da ich sah, daß dieses neue Wohlgefallen die schon so zärtliche Anhänglichkeit, welche ich für sie zu allen Zeiten gehabt, vergrößerte, so wünschte ich mir Glück zu einem Gefühle, welches mir half, mich selbst zu täuschen, und welches machte, daß Ihr Bild mich weniger peinigte. Dieses Gefühl hat etwas von der Süßigkeit der Liebe und nichts von ihrer Qual. Das Vergnügen sie zu sehen ist nicht gestört durch den Wunsch sie zu besitzen; zufrieden, mein ganzes Leben so hinzubringen, wie ich es diesen Winter hingebracht, finde ich mich in euer beider Mitte in einer Lage so süß und friedlich
[Er hat einige Seiten vorher gerade das Gegentheil gesagt. Der arme Philosoph scheint mir hier zwischen zwei hübschen Frauen in einer komischen Verlegenheit; man möchte sagen, er will keine von beiden lieben, um sie alle beide zu lieben.]
, daß die Strenge der Tugend gemildert und ihr Gebot liebenswerth erscheint. Wenn mich eine thörichte Wallung auch einen Augenblick aufregt, so kommt doch Alles zusammen, sie zurückzudrängen und zum Schweigen zu bringen; ich habe zu viele gefährlichere besiegt, um mich noch vor irgend einer fürchten zu dürfen. Ich ehre Ihre Freundin, wie ich sie liebe: mehr brauche ich nicht zu sagen .Wenn ich auch nur an mein eigenes Interesse dächte, sind mir bei ihr alle die Rechte einer zärtlichen Freundschaft zu theuer, als daß ich mich der Gefahr aussetzen sollte, sie zu verlieren, indem ich sie zu erweitern suchte, und ich habe nicht einmal nöthig gehabt, an die Achtung zu denken, die ich ihr schuldig bin, um ihr, wenn wir miteinander allein waren, je auch nur ein einziges Wort zu sagen, das sie Ursache gehabt hätte zu deuten oder nicht zu verstehen. Wenn sie in meinem Benehmen vielleicht manchmal zu viel Aufmerksamkeit gefunden hätte, so hat sie doch gewiß in meinem Herzen nicht den Willen erkannt, dergleichen an den Tag zu legen. Wie ich sechs Monate gegen sie war, so werde ich mein ganzes Leben sein. Ich kenne nächst Ihnen nichts so Vollkommenes, als sie; aber wäre sie auch noch vollkommener als Sie, so fühle ich doch, daß ich nie Ihr Liebhaber gewesen sein müßte, um der ihrige werden zu können.
Ehe ich diesen Brief schließe, muß ich Ihnen sagen, was ich von dem Ihrigen denke. Ich finde darin bei aller Vorsicht, die ich aufRechnung der Tugend schreibe, die ängstliche Bedenklichkeit einer furchtsamen Seele, die es für ihre Pflicht hält, sich selbst bange zu machen, und sich einbildet, man müsse Alles fürchten, wenn man sich vor Allem hüten will. Diese übermäßige Aengstlichkeit führt eben so viele Gefahr mit sich, als ein übermäßiges Selbstvertrauen. Indem sie uns unaufhörlich Ungethüme zeigt, wo keine sind, erschöpft sie unsere Kraft im Kampfe mit Gespenstern, und indem sie uns ohne Ursache aufscheucht, bewirkt sie nur, daß wir gegen die wahren Gefahren weniger auf unserer Hut sind, und sie weniger
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