Julie oder Die neue Heloise
Indem ich des Vergnügens im voraus genoß, mit Ihnen zu leben, fürchtete ich die Uebelstände, welche es trüben könnten, und dachte auf Mittel, denselben auf die angenehmste und schönste Art vorzubeugen, indem ich Ihnen ein Ihres Werthes und meiner Anhänglichkeit für Sie würdiges Loos bestimmte. Das ist mein ganzes Verbrechen; es liegt in dem Allen, wie mir scheint, kein Grund, Sie so in Unruhe zu versetzen
Sie haben nicht Recht, mein Freund: denn Sie wissen ganz gut, wie theuer Sie mir sind; aber Sie wollen gern es sich wieder sagen lassen, und da ich es nicht minder gern wiederhole, so ist es Ihnen leicht, Ihren Zweck zu erreichen, ohne daß sich Verstimmungen und Klagen hineinzumischen brauchen.
Seien Sie also überzeugt, daß Ihr Aufenthalt hier, wenn Ihnen angenehm, es mir nicht minder ist als Ihnen, und daß ich von Allem,was Herr von Wolmar für mich gethan hat, nichts tiefer empfinde, als daß er es sich so angelegen sein ließ, Sie in sein Haus zu rufen und Sie in den Stand zu setzen, darin zu bleiben. Ich räume mit Freuden ein, daß wir einander nützlich sind. Mehr befähigt, auf guten Rath zu hören, als ihn aus uns selbst zu erzeugen, haben wir beide Leitung nöthig, und wer könnte besser wissen, was dem einen gut ist, als der andere, der ihn so genau kennt? Wer könnte aus der Erfahrung, wie schwer es ist, zum Guten umzukehren, besser die Gefahr kennen, fehl zu gehen? Welcher Gegenstand könnte uns besser an diese Gefahr erinnern, vor wem würden wir uns mehr schämen, ein so großes Opfer herabzuwürdigen? Sind wir, nachdem wir ein solches Band zerrissen, es nicht dem Andenken desselben schuldig, nichts zu thun, was des Beweggrundes, der uns dazu trieb, unwürdig wäre? Ja, diese Treue will ich Ihnen ewig halten, daß ich Sie bei allen Handlungen meines Lebens zum Zeugen nehme, und bei jedem Gefühle, das mich beseelt, zu Ihnen spreche: Sehen Sie, das zog ich Ihnen vor. Ach mein Freund, ich weiß das zu würdigen, was mein Herz so tief gefühlt hat. Ich kann vor der ganzen Welt schwach sein, aber vor Ihnen stehe ich für mich ein.
Mehr in diesem zarten Gefühle, das eine wahre Liebe stets zurückläßt, als in den spitzfindigen Distinctionen Herrn von Wolmar's ist der Grund des Aufschwungs unserer Seelen und der innern Kraft zu suchen, die wir bei einander erfahren, und die ich wie Sie zu fühlen glaube. Diese Erklärung ist wenigstens natürlicher und ehrender für unsere Herzen als die seinige; sie ist mehr geeignet, zur Tugend aufzumuntern, und dies ist ja genug, um ihr den Vorzug zu geben. Sie können daher glauben, daß ich von der wunderlichen Stimmung, die Sie bei mir voraussetzen, weit entfernt bin. Die Verfassung meines Gemüthes ist vielmehr ganz die entgegengesetzte. Wenn dem Plane, uns zu vereinigen, entsagt werden müßte, so würde ich diese Aenderung als ein großes Unglück für Sie, für mich, für meine Kinder und selbst für meinen Mann betrachten, der, wie Sie wissen, bei den Gründen, die ich habe, Sie hier zu wünschen, gar sehr in Betrachtung kommt. Aber, um nur von meiner besondern Neigung zu sprechen, rufen Sie sich den Augenblick Ihrer Ankunft zurück: bezeigte ich, da Sie mir nahten, weniger Freude Sie zu sehen? Schien es Ihnen, daß mir Ihr Aufenthalt in Clarens lästig oder peinlich war? Ist es Ihnen so vorgekommen, als hätte ich Sie mit Freuden wieder abreisen sehen?
Soll ich Alles sagen und mich mit meiner gewohnten Offenheit gegen Sie aussprechen? So will ich Ihnen denn unumwunden gestehen, daß die letzten sechs Monate, die wir mit einander zugebracht haben, die süßeste Zeit meines Lebens gewesen sind, und daß ich in diesem kurzen Zeitraum alles Gute genossen habe, das sich meine empfindende Seele nur vorzustellen fähig ist.
Ich werde nie einen Tag dieses Winters vergessen, an welchem wir, nachdem wir mit einander die Beschreibung Ihrer Reisen und die Abenteuer Ihres Freundes gelesen hatten, im Apollosaal zu Abend aßen und ich, an die Glückseligkeit denkend, die mir Gott in diesem Leben zugeschickt, Alles um mich versammelt sah, meinen Vater, meinen Mann, meine Kinder, meine Cousine, Milord Eduard, Sie, ohne Fanchon zu rechnen, die an dem Gemälde doch auch nichts verdarb, und Alles das der glücklichen Julie wegen beisammen. Ich sagte mir, dieses kleine Zimmer enthält Alles, was meinem Herzen theuer ist, und vielleicht das Beste, was es auf Erden giebt; ich bin umgeben von Allem, woran ich Theil nehme; hier ist für mich die ganze Welt; ich
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