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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Gäste nicht größeren, verbindlicheren, liebenswürdigeren Eifer an den Tag legen können, als Julie im Sterben für ihre Familie, Nichts von Allem, was ich vorausgesehen hatte, geschah nichts von Allem, was ich sah, wußte ich mir in meinem Kopfe zurecht zulegen. Ich wußte nicht mehr, was ich denken sollte, es ging über meine Fassung.
    Nach dem Essen wurde der Herr Pfarrer angemeldet. Er kam als Freund des Hauses, wie er oft zu thun pflegte. Obgleich ich ihn nicht hatte rufen lassen, weil ihn Julie nicht verlangt hatte, so gestehe ich Ihnen doch, daß mir seine Ankunft überaus lieb war, und ich glaube nicht, daß der eifrigste Gläubige in gleichem Falle mehr Freude darüber hätte empfinden können. Seine Gegenwart sollte manche Zweifel aufklären, und mich aus einer seltsamen Spannung reißen.
    Erinnern Sie sich des Grundes, der mich bewogen hatte, ihr ihr bevorstehendes Ende anzukündigen. Wie hätte ich mir nach der Wirkung, die, meiner Meinung nach, diese furchtbare Nachricht auf sie machen mußte, diejenige denken können, welche sie wirklich hatte? Wie! diese andächtige Frau, die in ihren gesunden Tagen keinen Tag ohne Sammlung vorübergehen läßt, die das Gebet zu ihren Erholungen rechnet, hat nur noch zwei Tage zu leben; sie sieht sich im Begriffe, vor dem furchtbaren Richter zu erscheinen, und anstatt sich auf diesen schrecklichen Augenblick vorzubereiten, anstatt mit ihrem Gewissen zu Rathe zu gehen, belustigt sie sich damit, ihr Zimmer zu schmücken, Toilette zu machen, mit ihren Freunden zu plaudern, deren Mahlzeit zu erheitern, und in allen ihren Gesprächen kein Wort von Gott oder dem ewigen Heil! Was sollte ich von ihr und ihrer wahren Gesinnung denken? Wie ihr Benehmen mit den Vorstellungen zusammenreimen, die ich von ihrer Frömmigkeit hatte? Wie die Anwendung, die sie von den letzten Augenblicken ihres Lebens machte, mit dem in Uebereinstimmung bringen, was sie dem Arzte über den Werth derselben gesagt hatte? Alles dies war mir ein unerklärliches Räthsel; denn wenn ich auch bei ihr nicht alle die Heiligkeitskrämerei der Frömmler erwartete, so schien mir doch, daß es höchste Zeit wäre, an das zu denken, was sie von so großer Wichtigkeit achtete, und was jetzt sicher keinen Aufschub mehr litt. Wenn man unter dem Getümmel dieses Lebens andächtig ist, wie soll man es nicht in dem Augenblicke sein, da man dasselbe verlassen muß, und nichts mehr zu thun bleibt, als an das andere zu denken?
    Diese Betrachtungen führten mich zu einem Punkte, zu welchem ich nie geglaubt hatte gelangen zu können. Ich fing fast an besorgt zu werden, daß meine unvorsichtig geäußerten Meinungen endlich zu viel
    Macht über sie gewonnen haben möchte. Ich hatte die ihrigen nicht angenommen, und dennoch wäre es mir lieb gewesen, wenn sie denselben entsagt hätte. Wenn ich krank gewesen wäre, so würde ich gewiß in meiner Ueberzeugung gestorben sein; aber ich wünschte, daß sie in der ihrigen stürbe, und fand, so zu sagen, daß sie in ihrer Person mehr wagte als in meiner eigenen. Dieser Selbstwiderspruch wird Ihnen extravagant scheinen, auch ich finde ihn nicht vernünftig und dennoch ist er mir widerfahren. Ich unternehme nicht, ihn zu rechtfertigen, ich führe Ihnen lediglich die Thatsache an.
    Es war also endlich der Augenblick gekommen, welcher mich über meine Zweifel aufklären sollte. Denn es war leicht vorauszusehen, daß der Pastor früher oder später das Gespräch auf das lenken würde, was seines Amtes ist, und wenn Julie fähig gewesen wäre, sich bei ihren Antworten zu verstellen, so hätte es ihr doch schwer werden sollen, sich so zu verstellen, daß ich, der ich Acht gab und vorbereitet war, nicht ihre wahre Meinung hätte entdecken können.
    Alles kam, wie ich es vorausgesehen hatte. Ich lasse die Gemeinplätze untermischt mit Lobeserhebungen bei Seite, welche dem Geistlichen zum Uebergange dienten, um zu seinem Gegenstande zu kommen; ich lasse auch bei Seite, was er ihr Erbauliches sagte über das Glück, ein gutes Leben mit einem christlichen Ende zu krönen. Er setzte hinzu, daß er in der That bisweilen über gewisse Punkte Ansichten bei ihr gefunden, die mit der Lehre der Kirche, das heißt, mit drerjenigen, welche die gesundeste Vernunft aus der Schrift ableiten könne, nicht völlig übereinstimmten; aber da sie sich nie darauf gesteift hätte, sie zu vertheidigen, so hoffte er, daß sie so, wie sie gelebt hätte, in der Gemeinschaft der Gläubigen sterben, und sich allen

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