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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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wagte Niemanden zu fragen, aus Furcht, mehr zu erfahren, als er zu wissen wünschte. Man sagte sich: wenn gute Nachricht ist, so wird man sich beeilen, sie bekannt zu machen, wenn schlechte, wird man sie immer nur zu früh erfahren. Bei der Angst, in welcher sie sich befanden, war es genug für sie, daß sich keine Nachricht vernehmen ließ. Mitten in dieser ängstlichen Stille war Frau von Orbe die einzige, die sich viel rührte und viel sprach. Sobald sie aus Juliens Zimmer war, lief sie, anstatt in das ihrige zu gehen und sich niederzulegen, durch das ganze Haus, hielt alle Leute an, und fragte, was der Arzt gesagt habe, was man meine. Sie war in der vergangenen Nacht zugegen gewesen, und konnte sich nicht verhehlen, was sie gesehen; aber sie suchte sich selbst zu täuschen und das Zeugniß ihrer Augen zu verwerfen. Diejenigen, welche sie befragte, gaben ihr nur günstige Antwort, und dies ermuthigte sie, wieder Andere zu befragen, und stets mit so lebhafter Unruhe und so ängstlicher Miene, daß man die Wahrheit hätte tausend Mal wissen können, ohne in Versuchung zu sein, sie ihr zu sagen.
    Bei Julie nahm sie sich mit Gewalt zusammen, und der rührende Anblick, den sie vor Augen hatte, stimmte sie mehr zur Wehmuth als zu ungeduldiger Heftigkeit. Sie fürchtete besonders, Julien ihre Unruhe sehen zu lassen: aber es gelang ihr schlecht, sie zu verstecken: an der Anstrengung, die es ihr kostete, ruhig zu scheinen, bemerkte man sie nur desto mehr. Julie ihrerseits that alles Mögliche, um sie zu täuschen. Ohne ihre Krankheit geringer zu machen, sprach sie davonfast wie von einer beseitigten Sache, und schien nur in Sorge um die viele Zeit, die sie nöthig haben würde, sich wieder zu erholen. Auch dies trug mit zu meiner Marter bei, daß ich sie Beide bemüht sah, sich gegenseitig zu beruhigen; ich, der ich so gut wußte, daß keiner von beiden die Hoffnung in der Seele lag, die sie einander beizubringen suchten.
    Frau von Orbe hatte die beiden vorigen Nächte durchwacht; seit drei Tagen war sie nicht aus den Kleidern gekommen. Julie bat sie, schlafen zu gehen; sie wollte nicht. Nun denn! sagte Julie, so schlagt ihr ein Bettchen in meiner Stube auf; wofern, fügte sie, als ob sie es sich überlege, hinzu, wofern sie es nicht vorzieht, das meinige zu theilen. Was meinst du dazu, Cousine? Mein Uebel ist nicht ansteckend, du scheust dich nicht vor mir, schlafe in meinem Bett! Der Vorschlag wurde angenommen. Ich wurde weggeschickt, und wahrlich mir that Ruhe noth.
    Ich war früh auf. Voll Unruhe, was in der Nacht vorgegangen, trat ich beim ersten Geräusch, das ich vernahm, in ihr Zimmer. Nach dem Zustande, in welchem sich Frau von Orbe am vorigen Tage befunden, konnte ich mir die Verzweiflung denken, in welcher ich sie antreffen, und das Rasen, davon ich Zeuge sein würde. Bei meinem Eintritt sah ich sie auf einem Lehnstuhl sitzen, schwach und bleich, oder vielmehr blau, die Augen schwer und fast erloschen, aber sanft, ruhig, wortkarg und Alles thuend, was man ihr sagte, ohne zu antworten. Julie selbst schien weniger schwach als Tages zuvor, ihre Stimme war fester, ihre Miene beweglicher: sie schien die Lebhaftigkeit ihrer Cousine angenommen zu haben. Ich erkannte leicht an ihrer Farbe, daß dieser Schein von Besserung Wirkung des Fiebers war, aber ich sah auch etwas wie eine geheime Freude in ihren Blicken glänzen, das wohl mit dazu beitragen mochte, und dessen Ursache ich nicht entdecken konnte. Der Arzt beharrte nicht weniger auf seinem Ausspruch vom vorigen Tage: die Kranke fuhr nicht weniger fort, derselben Meinung zu sein: es blieb mir keine Hoffnung mehr.
    Da ich genöthigt gewesen, mich kurze Zeit zu entfernen, und wieder eintrat, bemerkte ich, daß das Zimmer sorgfältig aufgeräumt war; es herrschte Ordnung und Zierlichkeit; sie hatte Blumentöpfe auf das Kamin setzen lassen; die Vorhänge waren aufgezogen und zurückgebunden; es war frische Luft eingelassen; ein angenehmer Geruch hatte sich verbreitet; man hätte nicht glauben sollen, sich in einem Krankenzimmer zu befinden. Mit gleicher Sorgfalt hatte sie Toilette gemacht: Anmuth und Geschmack zeigten sich noch in ihrem nachlässigen Putze. Das Alles gab ihr eher das Ansehen einer Weltdame, die Gesellschaft erwartet, als einer Frau vom Lande, die ihrer letzten Stunde harrt. Sie sah mein Erstaunen, und lächelte; in meinen Gedanken lesend wollte sie mir antworten, als ihre Kinder gebracht wurden. Nun war an nichts Anderes mehr zu denken; und Sie können

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