Julie oder Die neue Heloise
sich vorstellen, ob jetzt, da sie im Begriff war, sie zu verlassen, ihre Liebkosungen lässig und gemäßigt waren. Ich bemerkte auch, daß sie sich noch öfter und mit noch heißerer Zärtlichkeit Dem zuwendete, der ihr das Leben kostete, als ob er ihr um diesen Preis noch theurer geworden wäre.
Alle diese Küsse, Seufzer, Thränen waren Räthsel für die armen Kinder. Sie liebten sie zärtlich, aber nach Kinderart: ihr Zustand, die Verdoppelung ihrer Liebkosungen, ihr Schmerz, sie nicht wiedersehen zu sollen, war ihnen unbegreiflich; sie sahen uns betrübt und weinten, sie wußten eben so wenig warum. Wenn man den Kindern das Wort: Tod sagt, so haben sie keine Vorstellung davon: sie fürchten ihn weder für sich noch für Andere, sie fürchten sich vor Schmerzen, und nicht vor dem Tode. Wenn der Schmerz ihrer Mutter eine Klage auspreßte, so durchbohrten sie die Luft mit ihrem Geschrei; wenn man ihnen sagte, daß sie sie verlieren würden, so hätte man sie für dumm halten sollen. Nur Henriette, ein wenig älter, und von einem Geschlechte, in welchem sich Gefühl und Verstand eher entwickeln, schien bestürzt und unruhig, daß sie ihr Mammachen, statt wie sonst immer aufrecht bei ihren Kindern, in einem Bette liegen sah. Ich erinnere mich, daß Julie hierbei eine Bemerkung machte, die ganz in ihrem Charakter war, nämlich über die ungeschickte Eitelkeit Vespasian's, der im Bett blieb, als er noch etwas thun konnte und aufstand, als ihm dies nicht mehr möglich war
[Dies ist nicht vollkommen genau: Sueton erzählt, daß Vespasian auf seinem Todbette wie gewöhnlich arbeitete und sogar seine Audienzen gab; ader vielleicht wäre es in der That besser gewesen, aufzustehen, um Audienz zu geben und sich dann niederzulegen, um zu sterben. Ich weiß, daß Vespasian, wenn auch kein großer Mensch, wenigstens ein großer Fürst war. Es hilft nichts: welche Rolle man auch während seines Lebens gespielt haben möge, bei seinem Sterben muß man nicht Komödie spielen.]
. Ich weiß nicht, sagte sie, ob es sich für einen Kaiser geziemt, aufrecht zu sterben, aber ich weiß wohl, daß eine Familienmutter sich nicht anders im Bett finden soll, als um zu sterben.
Nachdem sie ihrem Herzen an ihren Kindern Luft gemacht, und jedes einzeln genommen hatte, besonders Henriette, die sie sehr lange hielt, und die man weinen und schluchzen hörte, als sie ihre Küsse empfing, rief sie sie alle drei, gab ihnen ihren Segen, und sagte, auf Frau von Orbe deutend: geht, meine Kinder, werft euch eurer Mutter zu Füßen: diese giebt euch Gott; er hat euch nichts genommen. Im Augenblick laufen sie zu ihr, knieen zu ihr hin, ergreifen ihre Hände, nennen sie ihre gute Mamma, ihre zweite Mutter. Clara neigte sich über sie; aber indem sie sie in ihre Arme schloß, strengte sie sich vergeblich an zu sprechen, sie konnte nur ächzen, kein Wort hervorbringen, die Kehle war ihr zugeschnürt; Sie können sich denken, ob Julie bewegt war! Dieser Auftritt fing an, zu lebendig zu werden; ich machte ihm ein Ende.
Nachdem der Augenblick der Rührung vorüber war, setzten wir uns um das Bett, um zu plaudern, und obgleich Juliens Lebhaftigkeit durch die Wiederkehr des Fiebers ein wenig gemäßigt wurde, sah man doch auf ihrem Gesichte dieselbe Zufriedenheit glänzen: sie sprach von Allem mit einer Sammlung und einer Theilnahme, die einen sehr unbekümmerten Geist verriethen: nichts entging ihr, sie war bei der Unterhaltung, als ob sie nichts Anderes zu thun hätte. Sie machte uns den Vorschlag, in ihrem Zimmer zu essen, um uns so wenig als möglich zu verlassen. Sie können denken, daß derselbe nicht abgelehnt wurde. Es wurde ohne Geräusch, ohne Wirrwarr, ohne Störung servirt, in so ruhiger Haltung, als ob man sich im Apollosaale befunden hätte. Fanchon, die Kinder aßen mit am Tische. Da Julie sah, daß es Allen an Appetit fehlte, wußte sie es so zumachen, daß man von Allem essen mußte, indem sie bald vorschützte, ihre Köchin belehren zu müssen, bald wissen wollte, ob sie davon genießen dürfte, bald uns an unsere Gesundheit erinnerte, die wir ja nöthig hätten, um sie zu pflegen, immer zu erkennen gab, wie gern sie uns essen sähe, so daß es unmöglich war, ihr den Gefallen zu versagen, und das Alles mit einer Heiterkeit, die ganz dazu geeignet war, uns von dem traurigen Gegenstande abzuziehen, der uns einnahm. Kurz, eine Wirthin, die es sich angelegen sein läßt, die Honneurs ihres Hauses zu machen, hätte bei voller Gesundheit für fremde
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