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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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nicht auch das, ihm dienen und seinen Willen thun, wenn man, bevor man die Hülle verläßt, das erfüllt, was die Menschlichkeit fordert? Wozu eine Unruhe beschwichtigen, die ich nicht habe? Mein Gewissen ist nicht aufgeregt; wenn es mir manche mal Angst verursacht hat, so war das in meinen gesunden Tagen mehr der Fall als jetzt. Mein Vertrauen nimmt alle Angst hinweg: es sagt mir, daß Gott gütig ist, daß ich nicht strafbar bin, und meine Zuversicht wächst, je näher ich ihm komme. Ich bringe ihm nicht eine unwillkommene, späte und erzwungene Reue, die, von der Furcht eingegeben, nicht aufrichtig zu sein braucht, und nur eine Falle ist, um ihn zu betrügen; ich bringe ihm nicht den schlechten Rest und Wegwurf meines Lebens, voll Schmerz und Abspannung, der Krankheit, den Schmerzen und der Todesangst zum Raube, den ich ihm nur gäbe, weil mir nichts Anderes mehr zu thun übrig bliebe: ich bringe ihm mein ganzes Leben voller Sünden und Verirrungen, aber frei von den Gewissensbissen des Gottlosen und den Frevelthaten des Bösewichts.
    Zu welchen Qualen könnte Gott meine Seele verurtheilen? Die Verdammten, sagt man, hassen ihn: er müßte mich also hindern ihn zu lieben! Nein, ich fürchte in wenigen e nicht, ihre Zahl zu vermehren! O großes Wesen! Ewiges Wesen, höchste Vernunft, Quelle des Lebens und der Seligkeit, Schöpfer, Erhalter, Vater der Menschen und König der Natur, allmächtiger Gott, Allgütiger, an dem ich nie einen Augenblick gezweifelt, und unter dessen Augen zu leben ich stets geliebt habe! ich weiß es und ich freue mich deß, ich werde vor deinem Throne erscheinen. In wenigen Tagen wird meine Seele, frei von ihrer Hülle, beginnen, dir würdiger die unvergängliche Huldigung darzubringen, die mich in Ewigkeit beseligen soll. Ich rechne für nichts, was ich bis zu diesem Augenblicke sein werde. Mein Körper lebt noch, aber mein geistiges Leben ist vollbracht. Ich bin am Ziele meiner Laufbahn, und für die Vergangenheit schon gerichtet. Leiden und Sterben ist Alles, was mir noch zu thun übrig bleibt; es ist das Werk der Natur: aber ich, ich habe gesucht so zu leben, daß ich nicht nöthig habe, an den Tod zu denken; und jetzt, da er naht, sehe ich ihm ohne Furcht entgegen. Wer entschläft am Busen eines Vaters, ist nicht in Sorge um sein Erwachen.“
    Diese Rede, anfangs mit einem feierlichen und gemessenen Tone, dann mit erhöhtem Ausdruck und mit gehobener Stimme gesprochen, machte auf alle Anwesende, mich nicht ausgenommen, einen so lebhafteren Eindruck, da die Augen der Sprechenden von einem übernatürlichen Feuer strahlten. Ein neuer Glanz belebte ihr Gesicht, sie schien zu leuchten, und wenn es etwas auf der Welt giebt, das himmlisch genannt zu werden verdient, so waren es ihre Züge, während sie sprach.
    Der Pastor selbst, ergriffen, hingerissen von dem, was er gehört hatte, rief, die Augen und die Hände zum Himmel erhebend: Großer Gott, dies ist die Anbetung, die dir gebührt; nimm sie gnädig auf! die Menschen bringen dir selten eine ähnliche dar.
    Madame, sagte er, sich dem Bette nähernd, ich begann in der Meinung, Sie zu belehren, und Sie belehrten mich. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen. Sie haben den wahren Glauben, den, welcher zur Liebe Gottes führt. Nehmen Sie diese kostbare Ruhe eines guten Gewissens mit hinüber, sie wird Sie nicht trügen; ich habe viele Christen in der Lage gesehen, in welcher Sie sich befinden, aber keinen wie Sie. Welch ein Unterschied zwischen einem so friedfertigen Ende, und dem jener gepeinigten Sünder, die nur so viele eitle und unfruchtbare Gebete murmeln, weil dieselben unwerth sind, erhört zu werden!
    Madame, Ihr Tod ist so schön, wie Ihr Leben: Sie haben der Liebe gelebt, Sie sterben als Märtyrerin der Mutterliebe. Sei es, daß Gott Sie uns wiedergebe, um uns zum Beispiel zu dienen, sei es, daß er Sie zu sich rufe, um Ihre Tugenden zu krönen, möchten wir Alle, soviel unser sind, leben und sterben wie Sie. Wir würden dann unserer Seligkeit gewiß sein.
    Er wollte gehen; sie hielt ihn zurück. Sie gehören zu meinen Freunden, sagte sie zu ihm, und sind einer von Denen, die ich am liebsten sehe; für sie sind meine letzten Augenblicke mir kostbar. Wir werden uns auf so lange Zeit verlassen, daß wir uns nicht so schnell verlassen müssen. Er blieb mit Freuden, und hier ging ich hinaus.
    Als ich wiederkam, sah ich, daß die Unterhaltung über denselben Gegenstand fortgedauert hatte, aber in einem anderen Tone, und wie über eine

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