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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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erfahren hatte. Diese anhaltende peinliche Angst folgte mir überall; ich schleppte ihre unerträgliche Last mit mir herum. Ein Gedanke endlich brachte mich zum Entschlusse. Geben Sie sich keine Mühe, ihn zu errathen, ich muß ihn Ihnen sagen.
    Um wessen willen nehme ich denn Anstand? Ihretwegen oder meinetwegen? Wessen Ansichten lege ich meiner Betrachtung zu Grunde? Die ihrigen oder die meinigen? Was gilt mir nach jenen oder nach diesen für ausgemacht? Ich habe, um das zu glauben, was ich glaube, nichts als meine Meinung für mich, die sich auf einige Wahrscheinlichkeiten stützt. Zwar giebt es keine Beweisführung, die sie umstieße; aber welche Beweisführung macht sie unumstößlich? Sie hat für ihren Glauben ebenfalls ihre Meinung, nur daß sie diese für evident nimmt; ihre Meinung ist in ihren Augen Beweis genug. Welches Recht habe ich, wenn es sich um sie handelt, meine bloße Meinung, die ich für zweifelhaft anerkenne, ihrer Meinung vorzuziehen, die sie für erwiesen hält? Stellen wir die Folgen beider Ansichten in Vergleichung. Der ihrigen nach muß die Verfassung, in welcher sie sich in ihrer letzten Stunde befindet, für ihr Schicksal in der Ewigkeit entscheidend sein; der meinigen nach wird die Schonung, die ich für sie haben will, in drei Tagen für sie ohne alle Bedeutung sein. In drei Tagen wird sie, meiner Meinung nach, von nichts mehr wissen. Wenn aber vielleicht sie Recht hätte, welch ein Unterschied! Ewiges Heil oder Verderben Vielleicht! .... fürchterliches Wort! .... Unglücklicher, wage deine Seele, und nicht die ihrige!
    Dies ist der erste Zweifel, der mir die Ungewißheit, gegen welche Sie so oft gekämpft haben, verdächtig gemacht hat. Er hat sich seitdem öfters wieder eingestellt. Gleichviel, vor der Hand befreite er mich von jenem, der mich quälte. Mein Entschluß war auf der Stelle gefaßt, und aus Furcht, ihn wieder zu ändern, lief ich in Eile an Juliens Bett. Ich ließ Alles hinausgehen, und setzte mich; Sie können denken, mit welcher Fassung. Ich wendete bei ihr nicht die Vorsichtsmaßregeln an, die man bei kleinen Seelen nöthig findet. Ich sagte kein Wort: aber sie sah mein Gesicht, und verstand mich im Augenblick. Glauben Sie mir etwas Neues zu melden? sagte sie mir die Hand reichend. Nein, mein Freund, ich fühle mich; der Tod drängt, wir müssen scheiden.
    Darauf sprach sie lange, wovon ich Ihnen künftig werde zu sagen haben, und womit sie ihr Testament in mein Herz schrieb. Wenn ich das ihrige weniger gekannt hätte, so würden ihre letzten Verfügungen hinreichend gewesen sein, um es mir ganz zu offenbaren.
    Sie fragte mich, ob man im Hause um ihren Zustand wüßte. Ich sagte ihr, daß Alles in Bestürzung wäre, daß aber noch nichts Bestimmtes bekannt geworden, und Du Bosson sich nur mir allein eröffnet hatte. Sie beschwor mich, das Geheimniß noch diesen Tag sorgfältig zu bewahren. Clara, setzte sie hinzu, wird diesen Schlag nur von meiner Hand aushalten können; es wäre ihr Tod, wenn er ihr von einer andern käme. Ich bestimme die nächste Nacht zur Erfüllung dieser traurigen Pflicht. Deshalb vorzüglich habe ich die Meinung des Arztes wissen wollen, um nicht nach meinem bloßen Gefühl diese Unglückliche einem so harten Schlage auszusetzen. Machen Sie es so, daß sie nichts vor der Zeit argwöhne, oder Sie laufen Gefahr, ohne Freundin zu bleiben und Ihre Kinder ohne Mutter zu lassen.
    Sie sprach von ihrem Vater; ich sagte ihr, daß ich einen Expressen an ihn geschickt hätte, aber ich hütete mich, hinzuzusetzen, daß dieserMensch, anstatt bloß meinen Brief abzugeben, wie ich ihm geheißen, sich beeilt hatte, selbst zu reden, und so ungeschickt, daß mein alter Freund, indem er glaubte, seine Tochter sei ertrunken, vor Schreck auf der Treppe umgefallen war, und sich eine Wunde geschlagen hatte, die ihn in Blonay im Bette festhielt. Die Hoffnung, ihren Vater noch zu sehen, rührte sie sichtlich, und die Gewißheit, daß diese Hoffnung eitel war, war nicht der kleinste der Schmerzen, die ich hinunterschlucken mußte.
    Der Fieberanfall der vergangenen Nacht hatte sie außerordentlich geschwächt. Das gegenwärtige lange Gespräch konnte nicht dazu dienen, ihre Kräfte zu erhöhen. In ihrer Erschöpfung versuchte sie während des Tages ein wenig zu ruhen; erst am folgenden erfuhr ich, daß sie ihn nicht ganz zum Schlafen angewendet hatte.
    Inzwischen war das Haus voll Angst. Jeder erwartete in bangem Schweigen, daß man ihn aus seiner Unruhe risse, und

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