Julie oder Die neue Heloise
Punkten zu dem gemeinsamen Glaubensbekenntniß halten wollte.
Da Juliens Antwort meine Zweifel entschieden lößte, und nicht in dem gewöhnlichen Erbauungstone gehalten war, so will ich sie Ihnen fast Wort zu Wort mitheilen, denn ich hatte sie mir genau gemerkt und gleich nachher niedergeschrieben.
„Erlauben Sie mir, mein Herr, daß ich damit anfange, Ihnen zu danken für alle Mühe, die sie sich gegeben haben, mich auf den geraden Weg der Tugend und des christlichen Glaubens zu leiten und für die Sanftmut, mit welcher Sie meine Fehler, wenn ich irrte, gebessert oder getragen haben. Von Achtung für Ihren Eifer und von Erkenntlichkeit für Ihre Güte durchdrungen, erkläre ich mitFreuden, daß ich Ihnen alle meine guten Entschlüsse verdanke, und daß Sie mich stets dazu angeleitet haben, das Gute zu thun und die Wahrheit zu glauben.
Ich habe gelebt und sterbe in der protestantischen Gemeinschaft, welche ihre einzige Regel aus der heiligen Schrift und der Vernunft entnimmt; mein Herz hat stets dem zugestimmt, was mein Mund aussprach, und wenn ich Ihren erleuchtenden Belehrungen nicht immer mit der Willfährigkeit entgegengekommen bin, wie ich vielleicht gesollt hätte, so war dies eine Folge meiner Abneigung gegen jede Art von Verstellung; wenn mir etwas unmöglich war zu glauben, so habe ich nicht zu sagen vermocht, daß ich es glaubte; ich habe stets mit Aufrichtigkeit gesucht, was dem Ruhme Gottes in der Wahrheit entsprechend wäre. Ich habe mich in meinem Forschen irren können; ich bilde mir nicht ein, daß ich immer hätte Recht haben müssen, ich habe vielleicht immer Unrecht gehabt; aber meine Absicht ist immer rein gewesen, und Ich habe immer wirklich geglaubt, was ich zu glauben versicherte. Dies war Alles, was in dieser Hinsicht in meiner Macht stand. Wenn Gott meine Vernunft nicht höher aufgeklärt hat, so ist er gütig und gerecht; könnte er mir Rechenschaft abfordern für eine Gabe, die er mir nicht verliehen hat?
Dies, mein Heer, ist das Wesentliche, was ich Ihnen über die Meinungen, zu denen ich mich bekannte, zu sagen habe. Wegen alles Uebrigen giebt Ihnen mein gegenwärtiger Zustand an meiner Statt Antwort. Wäre es jetzt, da mir der Kopf eingenommen ist, und das Fieber mich aufregt, Zeit zu einem Versuche, bessere Ansichten über Glaubenspunkte zu gewinnen, als ich bei so gesunden Kräften, als sie mir zu Theil geworden, gewinnen konnte? Wenn ich mich damals getäuscht habe, würde ich mich jetzt weniger täuschen? Und steht es bei der Erschöpfung, in welcher ich mich befinde, in meiner Macht, etwas Anderes glauben zu lernen, als ich bei meinem Wohlsein geglaubt habe? Die Vernunft entscheidet in Meinungssachen, und da die meinige ihre kräftigste Wirkung verloren hat, welches Ansehen könnten die schwachen Ueberreste derselben den Meinungen verleihen, die ich jetzt annehmen würde? Was bleibt mir also nunmehr zu thun übrig? Nichts, als mich an das zu halten, was ich bisher geglaubt habe; denn die Redlichkeit der Absicht ist die nämliche, und meine Urtheilskraft ist geringer. Wenn ich im Irrthume bin, so ist dies doch der Fall, ohne daßich ihn liebte: dies ist genug, um mich in Betreff meines Glaubens zu beruhigen.
Was die Vorbereitung zum Tode betrifft, mein Herr, so habe ich sie beendet, schlecht zwar, aber so gut ich konnte, und wenigstens besser, als es mir jetzt möglich wäre. Ich habe mich bemüht, mit der Erfüllung dieser wichtigen Pflicht nicht zu warten, bis ich dazu unfähig sein würde; ich betete, da ich gesund war, jetzt verzichte ich darauf. Das Gebet des Kranken ist Geduldigsein; die Vorbereitung zum Tode ist ein gutes Leben: ich kenne keine andere. Wenn ich mich mit Ihnen unterredete, wenn ich mich in der Einsamkeit sammelte, wenn ich mich bemühte die Pflichten zu erfüllen, die mir Gott auferlegt hat, da schickte ich mich an, vor ihm zu erscheinen, da betete ich ihn mit allen Kräften an, die er mir geschenkt hat: was vermöchte ich jetzt, da ich sie verloren habe? Ist meine gebrochene Seele im Stande, sich zu ihm zu erheben? Sind diese halberloschenen, von Leiden verzehrten Lebensreste würdig, ihm dargebracht zu werden? Nein, mein Herr, er läßt sie mir, um sie Denen zu widmen, die er mir zu lieben gegeben hat, und von denen er mich jetzt hinwegnimmt; ich nehme von ihnen Abschied, um zu ihm zu gehen; mit ihnen muß ich mich beschäftigen: bald werde ich mich mit ihm allein beschäftigen. Meine letzten Freuden auf Erden sind auch meine letzten Pflichten; heißt
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