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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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den Erfolg und durch meinen Beifall, den sie recht gut bemerkte, ließ sie es sich einfallen, die Hand an einen Löffel zu legen und plötzlich zu sagen: Clara, willst du hiervon? Der Ton und die Manier waren so täuschend nachgeahmt, daß es ihre Mutter durchzitterte. Gleich darauf bricht sie in ein helles Gelächter aus, reicht ihren Teller hin und sagt: Ja, mein Kind, gieb mir, du bist allerliebst. Und nun fing sie an so gierig zu essen, daß es mich in Erstaunen setzte. Als ich sie aufmerksamer ansah, bemerkte ich in ihren Augen etwas Unstetes, und in ihren Geberden ewas Hastigeres und Schärferes als gewöhnlich. Ich litt nicht, daß sie weiter aß, und es war sehr gut, denn eine Stunde darauf hatte sie eine heftige Indigestion, an der sie unfehlbar erstickt wäre, wenn ich sie weiter hätte essen lassen. Von Augenblick an nahm ich mir vor, nicht mehr dergleichen Spiel zu treiben, das ihre Phantasie so erhitzen konnte, daß sich ihrer nicht mehr Herr werden ließe. Da man von Betrübniß leichter zu heilen ist, als von Tollheit, so ist es besser, sie in ihrem Schmerze zu lassen, als ihre Vernunft daran zu wagen.
    Das ist ungefähr der Punkt, mein Lieber, bei welchem wir stehen. Seit der Baron wieder hier ist, geht Clara alle Morgen zu ihm, entweder während ich noch bei ihm bin, oder wenn ich von ihm gehe; sie bringen ein oder zwei Stunden mit einander hin, und die Sorge, welche sie ihm widmet, erleichtert ein wenig die, welche man für sie selbst tragen muß. Außerdem fängt sie an, ein wenig mehr bei den Kindern zu sein. Eines von ihnen ist krank gewesen, gerade das, welches sie am wenigsten liebt. Dieser Zufall hat sie erinnert, daß sie noch mehr Verluste erleiden könnte, und sie wieder eifrig gemacht, ihre Pflichten zu erfüllen. Dessenungeachtet hat sie es bis zur Wehmuth noch nicht bringen können, die Thränen wollen noch nicht fließen: man wartet damit auf Ihre Ankunft; Sie werden sie zu trocknen haben. Sie verstehen mich doch? Denken Sie an Juliens letzten Rath; er ist ursprünglich von mir ausgegangen, und er scheint mir mehr als je nützlich und vernünftig. Kommen Sie und vereinigen Sie sich mit dem, was von ihr noch übrig ist. Ihr Vater, ihre Freundin, ihr Mann und ihre Kinder, Alles wartet, Alles verlangt nach Ihnen, Sie sind allen unenthehrlich. Kurz, ohne mich weiter zu erklären, kommen Sie, unsern Schmerz zu theilen und zu lindern; ich werde vielleicht Ihnen mehr als sonst Jemanden zu danken haben.
     
Zwölfter Brief.
Julie an Saint-Preux.
    (Einlage in den vorigen.)
    Wir müssen auf unsere Pläne verzichten. Alles ist verändert, mein Freund: unterwerfen wir uns diesem Schicksale ohne Murren! es kommt von der Hand eines Weiseren als wir. Wir gedachten miteinander zu leben; diese Vereinigung war nicht zum Guten. Es isteine Wohlthat des Himmels, daß er sie verhütet hat; ohne Zweifel verhütet er Unglück.
    Ich habe lange in einer Täuschung gelebt. Diese Täuschung war mir heilsam; sie verschwindet in dem Augenblicke, da ich sie nicht mehr nöthig habe. Sie glaubten mich geheilt. Ich glaubte es selbst. Danken wir Dem, der diesen Irrthum währen ließ, so lange er nützlich war; wer weiß, ob nicht, wenn ich mich dem Abgrunde so nahe erblickt hätte, mein Kopf darauf gegangen wäre? Ja, es war umsonst, daß ich das erste Gefühl zu ersticken gedachte, das mich lebendig gemacht; es hatte sich in's Innerste meines Herzens zurückgezogen. Jetzt erwacht es in dem Augenblicke, da es nicht mehr zu fürchten ist; es hält mich aufrecht, wenn meine Kräfte mich verlassen; es belebt mich, wenn ich mich sterben fühle. Mein Freund, ich lege dieses Bekenntniß ohne Scham ab; dieses Gefühl, das wider meinen Willen in mir gehaftet, steht nicht in meiner Macht, es hat meiner Unschuld nichts gekostet: soweit mein Wille reichte, war ich meiner Pflicht ergeben. Wenn das Herz, das nicht von ihm abhängt, Ihnen blieb, so war dies eine Qual für mich, aber nicht meine Schuld. Ich habe gethan, was ich schuldig war. Die Tugend bleibt mir unbefleckt und die Liebe ist mir geblieben ohne Reue.
    Ich darf sagen, daß mir die Vergangenheit Ehre macht; aber wer hätte mir für die Zukunft einstehen können? Ein Tag mehr vielleicht, und ich war strafbar! Wie nun erst, wenn ich ein ganzes Leben mit Ihnen hinbringen sollte? In welcher Gefahr war ich, ohne es zu wissen! Wie viel großen Gefahren sollte ich noch ausgesetzt sein! Ohne Zweifel fürchtete ich für mich Alles das, was ich für Sie zu fürchten meinte. Alle

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