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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Schicksal Dessen, der am meisten zu beklagen ist, daß er noch die Anderen zu trösten hat. Mir liegt dies ob bei meinem Schwiegervater, bei Frau v. Orbe, bei Freunden, Verwandten, Nachbarn und bei meinen eigenen Leuten. Alles Andere geht noch; aber mein alter Freund! aber Frau v. Orbe! Die Betrübniß der Letzteren muß man sehen, um zu beurtheilen, wie sehr mein eigener Schmerz dadurch vergrößert wird. Weit entfernt, mir meine Bemühungen Dank zu wissen, macht sie mir einen Vorwurf daraus. Meine Aufmerksamkeiten reizen sie; sie verlangt heftiges Wehklagen dem ihrigen gleich, und die Barbarei ihres Schmerzes möchte am liebsten die ganze Welt in Verzweiflung sehen. Das Schlimmste ist, daß man sich bei ihr auf nichts verlassen kann: was sie einen Augenblick zu trösten scheint, bringt sie im nächsten Augenblicke auf. Alles, was sie thut, Alles, was sie sagt, grenzt an Tollheit, und müßte dem kaltblütigen Zuschauer lächerlich erscheinen. Ich habe viel zu leiden, aber ich will Alles gern ertragen. Denen dienend, die Julie geliebt hat, glaube ich ihr Andenken besser zu ehren als durch Thränen.
    Ein einziger Zug wird Ihnen eine Vorstellung von den übrigen geben. Ich glaubte es aufs Beste gemacht zu haben, indem ich Clara bat, an sich selbst zu denken, um die Sorgen übernehmen zu können, welche ihr ihre Freundin übertragen hatte. Ganz hin von Aufregung, Fasten und Nachtwachen, schien sie endlich entschlossen sich aufzuraffen, ihre gewöhnliche Lebensweise wieder anzufangen und wieder im gemeinsamen Speisesaale mitzuessen. Das erste Mal, als sie sich in demselben einfand, ließ ich den Kindern ihr Mittagsbrod in ihrem Zimmer geben, weil ich den Ausgang dieses Versuches fürchtete, und Kindern nichts Gefährlicheres vor Augen gebracht werden kann, als das Schauspiel heftiger Leidenschaften jeder Art. Diese Leidenschaften haben in ihrem Uebermaße immer etwas von kindischem Spiel an sich, das die Kinder anzieht, reizt und ihnen lieb macht, was sie fürchten sollten
[Deshalb lieben wir Alle das Theater und Mancher Romane.]
. Sie hatten davon nur schon zu viel gesehen.
    Als sie eintrat, warf sie einen Blick auf den Tisch und sah nur zwei Couverts; augenblicklich setzte sie sich auf den ersten Stuhl, den sie hinter sich fand, und wollte nicht zu Tische kommen, auch nicht den Grund dieses eigensinnigen Einfalls sagen. Ich glaubte ihn zu errathen, und ließ ein drittes Couvert an die Stelle legen, die ihre Cousine sonst einzunehmen pflegte. Nun ließ sie sich ohne Widerstand an den Tisch führen und legte ihr Kleid mit Sorgfalt zurecht, als ob sie fürchtete, jenem leeren Platze hinderlich zu werden. Kaum hat sie denersten Löffel Suppe zu Munde geführt, so legt sie den Löffel hin und fragt mit barschem Tone, was das Couvert da sollte, da Niemand weiter da wäre. Ich sagte, sie hätte Recht, und ließ das Couvert wegnehmen. Sie versuchte zu essen, es war ihr aber nicht möglich. Nach und nach schwoll ihr das Herz, ihr Athem wurde hörbar und glich Seufzern. Endlich sprang sie vom Tische auf, kehrte, ohne ein Wort zu sagen, oder mich anhören zu wollen, in ihr Zimmer zurück, und nahm den ganzen Tag nichts weiter als Thee.
    Am anderen Tage mußte wieder von vorne angefangen werden. Ich fiel auf ein Mittel, sie durch ihre eigenen Capricen zur Vernunft zu bringen und die Herbheit der Verzweiflung durch ein sanfteres Gefühl zu mildern. Sie wissen, daß ihre Tochter Frau v. Wolmar sehr ähnlich sieht. Clara gefiel sich darin, diese Aehnlichkeit durch Kleider von demselben Stoff hervorzuheben, und sie hatte ihnen von Genf mehrere gleiche mitgebracht, die sie an demselben Tage anzuziehen pflegten. Ich ließ also Henriette, so weit es thunlich war, ganz so kleiden, wie Julie zu gehen pflegte, und nachdem ich sie genau unterrichtet hatte, ließ ich sie bei Tische den dritten Platz einnehmen, an welchen man wie Tags zuvor ein Couvert gelegt hatte.
    Clara verstand meine Absicht beim ersten Blicke, sie war davon gerührt und warf mir einen zärtlichen und verbindlichen Blick zu. Es war die erste meiner Aufmerksamkeiten, die sie mir zu danken schien, und ich versprach mir Gutes von einem Mittel, dem es gelungen war, sie in eine weiche Stimmung zu versetzen.
    Henriette, stolz ihr Mammachen vorzustellen, spielte ihre Rolle vollkommen, und so vollkommen, daß ich die Bedienten mit thränenden Augen sah. Indessen gab sie ihrer Mutter immer den Namen Mamma, und sprach zu ihr mit der gebührenden Ehrfurcht: aber dreist gemacht durch

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