Julie oder Die neue Heloise
Zuckungen, von denen Clara ergriffen war, etwas Erschreckendes. Ich winkte der Kammerfrau, sich zu entfernen, denn ich fürchtete, daß ein einziges zur Unzeit hingeworfenes Wort des Trostes Claa wüthend machen würde.
Ich versuchte nicht mit ihr zusprechen; sie würde mich nicht einmal verstanden, nicht einmal gehört haben; aber nach Verlauf einiger Zeit, da ich sie erschöpft sah, nahm ich sie und trug sie in einen Lehnstuhl, setzte mich neben sie und hielt sie bei den Händen; ich befahl, die Kinder zu holen, und ließ diese sich um sie her stellen. Zum Unglück war das erste, das ihr in die Augen fiel, gerade die unschuldige Ursache des Todes ihrer Freundin. Sie schauderte, als sie es erblickte. Ich sah sie erbleichen, ihre Blicke wie mit Entsetzen abwenden und ihre Arme kraftlos ausstrecken, um es von sich zu stoßen. Ich zog das Kind an mich: Armer! sagte ich zu ihm, weil du der Einen zu theuer gewesen bist, wirst du der Andern verhaßt; sie hatten nicht in Allem dasselbe Herz. Diese Worte reizten sie heftig auf und zogen mir scharfe Reden zu. Sie verfehlter aber doch nicht Eindruck auf sie zu machen, sie nahm das Kind in ihre Arme, und that sich Gewalt an es zu liebkosen. Vergeblich; sie gab es fast in demselben Augenblick zurück; sie sieht es sogar noch immer weniger gern als das andere, und ich bin froh, daß es nicht dieses ist, das sie ihrer Tochter bestimmt haben.
Ihr Gefühlsmenschen, was hättet ihr an meiner Stelle gethan? Das, was Frau von Orbe that. Nachdem ich für die Kinder, für Frau von Orbe, für die Bestattung des einzigen Wesens, das ich auf der Welt liebte, gesorgt hatte, mußte ich zu Pferde steigen und hinreiten, mit dem Tod im Herzen, um ihn dem bejammernswürdigsten Vater zu geben. Ich fand ihn noch von seinem Falle leidend, unruhig, besorgt um seine Tochter; ich verließ ihn von Schmerz gebeugt, von jenem Schmerz der Greise, den man äußerlich nicht sieht, der weder einen Laut noch ein Zeichen hervorruft, der aber tödtet. Er wird es nicht überstehen, ich bin davon überzeugt, und ich sehe den letzten Schlag bevorstehen, der seinem Freund noch zu seinem Unglücke fehlt. Am anderen Morgen beeilte ich mich so sehr als möglich, um früh wieder zu Hause zu sein, und der würdigsten der Frauen die letzte Ehre zu erzeigen. Aber es war noch nicht Alles beschieden. Sie mußte noch wieder erwachen, um mir den schrecklichen Schmerz zu verursachen, sie zum zweiten Male zu verlieren.
Als ich mich dem Hause nähere, sehe ich einen meiner Leute, der athemlos auf mich zuläuft und so weit als ich ihn hören konnte, schreit: Monsieur, Monsieur, kommen Sie geschwind, Madame ist nicht todt! Ich weiß nicht, was diese unsinnige Rede bedeuten soll, stürze aber in's Haus. Ich sehe den Hof voll von Leuten, die Freudenthränen vergießen und mit lautem Geschrei Frau von Wolmar benedeten. Ich frage, was ist; Alles ist außer sich. Niemand kann mir antworten: der Kopf war meinen eigenen Leuten verdreht. Ich laufe die Treppe hinauf in Juliens Zimmer. Ich finde mehr als zwanzig Personen um ihr Bett auf den Knieen liegend und die Augen auf sie geheftet. Ich trete hinzu, ich sehe sie auf dem Bette gekleidet und geschmückt; das Herz klopft mir: ich sehe sie scharf an .... Ach! sie war todt! Dieser Augenblick einer falschen, so rasch, so grausam getödteten Freude war der bitterste meines Lebens. Ich bin nicht aufbrausend, aber ich fühlte mich heftig erzürnt. Ich wollte den Grund dieses unsinnigen Auftrittes wissen. Alles war verwirrt, verstört, außer sich; ich hatte alle Mühe von der Welt, hinter die Wahrheit zu kommen. Endlich gelingt es mir, und hier ist die Geschichte dieses Wunders.
Mein Schwiegervater, voll Unruhe über das Befinden seiner Tochter, hatte seinen Kammerdiener, da er ihn entbehren zu können glaubte, kurze Zeit vorher, ehe ich bei ihm eintraf, abgeschickt, um Erkundigung einzuziehen. Der alte Diener, den das Reiten ermüdete, hatte einen Kahn genommen, war in der Nacht über den See gefahren, und an dem Morgen, an welchem ich zurückkam, in Clarens angekommen. Er findet das Haus in Bestürzung, erfährt die Ursache, geht seufzend in Juliens Zimmer hinauf, kniet an ihrem Bette nieder, sieht sie an,weint, betrachtet sie von Neuem. Ach! meine gute Herrin! Ach! warum hat nicht Gott mich statt Ihrer hinweggenommen! Ich bin ja alt, hänge an nichts mehr, bin zu nichts mehr nütze, was thue ich noch auf Erden? Und Sie waren so jung, der Ruhm Ihrer Familie, das Glück Ihres Hauses, die
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